Historischer Milchpreis: Durchatmen und raus aus dem Hamsterrad

Marktbeobachtungen von Hugo Gödde

Der Erzeugerpreis für Milch kennt immer noch kein Halten. 2022 wird als Jahr der Rekorde in die Geschichte eingehen. Darüber sind sich alle Marktkenner einig. Wer eine solche Entwicklung Anfang des Jahres vorhergesehen hätte, wäre für verrückt erklärt worden. Im Oktober sprang der durchschnittliche Auszahlungspreis auf 59,1 ct/kg und damit noch einen Cent über Vormonat. Da der Preis auch im November/Dezember leicht steigt, gehen Statistiker von einem Jahrespreis von 54 bis 55 Cent für 2022 aus. Im letzten Jahr lag er bei 36,3 ct/kg (bei 4,0% Fett und 3,4% Eiweiß), das ist ein Anstieg von sage und scheibe 50%.  

Auch im Supermarkt ist nach einigen Wellen die Erhöhung für Milch, Butter, Sahne oder Quark angekommen. Bei den Anstiegen der Erzeugerpreise insgesamt liegen Lebensmittel weit vorne und an erster Stelle die Molkereiprodukte. Besonders trifft dieser Trend auf die konventionelle Milch zu, sonst ein Kampfplatz um jeden Cent.

Preisspitzenreiter im Norden

Auffallend ist weiterhin die Tabellenführerschaft der norddeutschen Molkereien, die vorher üblicherweise eher Schlusslichter waren. Laut top agrar- Milchpreisbarometer zahlt z.B. die Molkerei Ammerland im Oktober 63,5 ct/kg (netto ohne Zu- und Abschläge). Im Schnitt liegt der Norden über 60 Cent. Der Süden (sonst immer Vorreiter) hat etwas aufgeholt auf 57 bis 58 Cent. Auch die Molkereien im Westen und Osten bewegen sich auf diesem Niveau. Nach Aussagen von Marktbeteiligten schlugen zeitverzögert endlich die verbesserten Halbjahresabschlüsse mit dem Handel bei den Molkereien zu Buche. Andere kritisieren, dass die Milchverarbeiter zunächst einmal ihre eigenen gestiegenen Kosten (Lieferketten, Energie) bedienten, bevor sie dann endlich die höheren Markterlöse an die Erzeuger weitergaben.

Entscheidend ist aber, dass Milchwerke, die vor allem Massenware und für den Export produzieren, in diesem Jahr die Milchpreise antreiben. Premiummolkereien mit starken Marken für den heimischen Markt kommen nicht nach. Und die Unterschiede sind größer als je zuvor. Das liegt aber weniger am Management als am „verrückten“ Markt. Wer einfach und mit geringen Kosten Massenprodukte verwerten kann, hat die Nase vorn. Über Jahre mühsam aufgebaute Markenprodukte verlieren gegen LEH- Eigenmarken. Die Inflation und der globale Markt lassen grüßen.

Europaweit liegen die Milchpreise in Deutschland am höchsten, heißt es beim Milchindustrieverband. Der Abstand zu Holland oder Belgien ist zwar gering, aber in Frankreich wird etwa 10 Cent weniger gezahlt. Solange aber die Milch knapp ist, spielt das keine große Rolle. Denn trotz Absatzrückgang fehlen in Deutschland und der EU (noch) Rohmilchmengen. Selbst in den Niederlanden rechnet der mit Abstand größte Milchriese FrieslandCampina mit Produktionsschwächen, so dass man erstmalig seit Jahren neue Betriebe bzw. neue Mengen aufnimmt.

Geraten Preise unter Druck? 

Aber Vorsicht: seit Oktober nimmt die Anlieferung Fahrt auf. Bis September lag sie etwa 1% unter Vorjahr. Seither übersteigt die Produktion ca. 2% die Vergleichsmonate. Und die abgeschwächte Nachfrage im LEH (minus 7% bei Milch, Sahne, Quark und minus 10% bei Butter bis Oktober) stützt nicht gerade den Absatz. Schon sinkt der Börsenmilchwert, ein wichtiger Frühindikator der erwarteten zukünftigen zwölf Monate – bestimmt durch Preise für Butter und Magermilch an der Börse – erstmals seit Monaten unter 50 Cent (!). Zwar sind die Börsenpreise nur eine Momentaufnahme und können sich schnell ändern. Aber auch der aktuelle Rohmilchwert gibt nach und Brancheninsidern zufolge dürfte der Abschlag für November stärker ausfallen und sich der 50 Cent-Grenze nähern. 

Im Großhandel halten Butter und Käse noch einen Aufpreis von 15% bis 25% gegenüber dem Vorjahres-November. Aber die Eiweißverwertung von Milchpulver u.a. bereitet Probleme. Sowohl in Lebensmittel- als auch in Futtermittelqualität rutschte der Preis im Großhandel bereits unter den Vorjahresmonat.

Und international?

Hintergrund dieser Preiserwartungen ist der negative Trend der Weltmarktpreise für Butter und Magermilchpulver, die seit dem Frühjahr langsam den Rückwärtsgang eingelegt haben, nachdem sie zuvor kräftig gestiegen waren.

Der Milchpreisrekord ist seit 2021 stark von der Weltmarktentwicklung abhängig. Die EU-Spitzenposition beim Export, die sich in vielen Jahren zuvor oft als Nachteil für den Erzeugerpreis dargestellt hat, verkehrt sich (kurzfristig?) zum Vorteil. Die Preise für Milchprodukte schnellten in ungekannte Höhen und Molkereien mit Exportlizenzen konnten ihre Margen hochschrauben – trotz Kostensteigerungen und Lieferengpässen. Zuletzt aber entwickelten sich die EU-Exporte uneinheitlich. Käse, das mengenmäßig wichtigste Produkt, wurde geringer ausgeführt. Erhebliche Einbußen verzeichnete Magermilchpulver mit minus 17%. Besonders China mit einem Anteil von 20% am Gesamthandel reduziert deutlich. Dafür seien eine höhere Eigenproduktion, neue Corona-Lockdowns in Millionenstädten und sinkende Wirtschaftsleistung verantwortlich. Trotzdem geht Fonterra, Milchkonzern und Exportweltmeister aus Neuseeland, auch in nächster Zeit von positiven, aber nicht mehr euphorischen Signalen aus.

Milchviehhalter zufrieden bis unruhig

Noch spürt man diese Entwicklung bei den Auszahlungspreisen für die Bäuerinnen und Bauern nicht. Der Dezemberpreis dürfte den Rekord schaffen, aber ab Januar könnte der Zenit überschritten sein. Die aktuellen Abschlüsse mit dem Einzelhandel sprechen eher für einen langsamen Rückgang. Aber verstärkte Produktion und sinkender Absatz könnten für Preisdruck sorgen. Trotz gestiegener Kosten haben Milchviehhalter zurzeit Freude beim Blick auf ihr Konto. So könnte es bleiben. Die Ergebnisse des Wirtschaftsjahres 2021/2022 erbrachten erstmals seit Jahren wieder zufriedenstellende Zahlen. Die Futterbaubetriebe (Milch) eroberten sogar den Spitzenplatz – das kannten Milchbäuerinnen und Milchbauern gar nicht mehr. Trotzdem baut bisher kaum ein Erzeuger oder stockt großartig auf. Im Vordergrund stehen längst überfällige Reparaturen, Technik- und Arbeitsverbesserung. An diesen Ständen verweilten auch die Milcherzeuger bei der EuroTier. Berater Assheuer von der Kammer NRW riet ihnen dort, aktuell einen Um- oder Neubau zu überdenken. Es sei kein günstiger Zeitpunkt angesichts der gestiegenen Baukosten und Zinsen. Der Markt biete zwar einen sehr guten Erlös, aber wenig Sicherheiten. Alte Rechnungen bezahlen, das Eigenkapital erhöhen, Reserven anlegen und Durchatmen wäre auch mal eine Strategie. Das Hamsterrad für eine Zeit zu verlassen, „haben sie sich verdient.“

In Hannover war man sich einig, dass für den Neubau eines Kuhplatzes mindestens 15.000 € hingelegt werden müssen. Selbst bei überdurchschnittlichen Leistungen rechne sich das nur mit Förderung. Aber auch dann müsse die Wirtschaftlichkeit für die nächsten Jahre zur Planungsgrundlage gemacht werden können. Verlässliche Daten will aber niemand vorhersagen. 

Bio-Milch vom Renner zum Sorgenkind

Die Biomilch, Wachstumsgarant der Vor-Corona und Coronazeit, konnte preislich in 2022 ordentlich zulegen auf 62 Cent im Oktober, aber der Abstand zur „normalen“ Milch reduzierte sich von 13 ct/kg auf heute 3 Cent. Laut Aussagen des European Milk Board (EMB) erzielten die Erzeuger im Wirtschaftsjahr 2021/22 im Schnitt 52,3 ct/kg. Die Kosten bei einer „fairen Vergütung“ betrugen aber 66 Cent, so dass den Erzeugern 22% zur Kostendeckung fehlten, wie das Büro für Agrarsoziologie und Landwirtschaft (BAL) ermittelt hat. Selbst wenn man die Öko-Beihilfen und anteilsmäßig die Schlachterlöse mitrechnet, bewegt sich das Einkommen für die Arbeit bei den kleineren/mittleren Betrieben eher im Bereich des Mindestlohns. Zwar hat sich in den letzten Monaten das Preis-Kosten-Verhältnis etwas gebessert, aber die Biomilchproduktion könne man aktuell nicht als sozial und wirtschaftlich nachhaltig bezeichnen, urteilt das EMB.

Außerdem wundern sich Marktkenner immer noch, warum der LEH und der Discount die Bio-Konsummilchpreise derart drastisch erhöht hat von 1,15 €/Ltr. auf 1,69 (Juli) bzw. 1,49 (September), ohne dass die Erzeugerpreise entsprechend angehoben wurden. In der Folge ging in den ersten zehn Monaten 2022 der Verkauf von Bio-Konsummilch fast 10% zurück – wachsend seit dem Sommer. Dagegen stieg die Weidemilch drastisch an und holte im LEH die Biotrinkmilch fast ein. Die Margen des Handels aber blieben.