Das Recht auf gentechnikfreie Landwirtschaft und Lebensmittelerzeugung muss sichergestellt und darf nicht torpediert werden. Deshalb hat sich die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL) mit einem Brief erneut an die EU-Kommission gewandt und sie aufgefordert, den geleakten Gesetzesentwurf zur Deregulierung der Gentechnik zurückzuziehen. Auch Bioland fordert, dass die Kommission diesen Entwurf „erst gar nicht auf den Verhandlungstisch bringen“ darf. Und der Verband Lebensmittel ohne Gentechnik (VLOG) erklärt: „Mit diesem verkorksten Plan kann und darf die EU-Kommission nicht durchkommen“.
„Der aktuelle Leak zeigt, dass die EU-Kommission die nahezu vollständige Deregulierung neuer Gentechnik-Pflanzen plant. Das wäre das Aus der gentechnikfreien konventionellen und ökologischen Landwirtschaft. Kommt der Vorschlag durch, würde das Recht auf gentechnikfreie Erzeugung und das in der EU geltende Vorsorgeprinzip ausgehebelt. Die Gentechnik-Konzerne bekämen einen Blankocheck, sie könnten ihre Gentechnik-Pflanzen ungeprüft, intransparent und unkontrolliert in unser Saatgut, auf unsere Äcker und Futtertröge bringen und sich ihre Profite sichern. Für abzusehende Folgeschäden der Risikoprodukte müssten wir Bäuer:innen und die Verbraucher:innen aufkommen. Wir hätten keinerlei Möglichkeiten mehr unsere Ernten vor Gentechnik-Kontaminationen zu schützen, weil Kennzeichnungspflicht, Rückverfolgbarkeit und Haftungsansprüche abgeschafft werden sollen“, erklärt die AbL-Gentechnikexpertin Annemarie Volling unter Bezugnahme auf den jetzt an die EU-Kommission geschickten Brief.
Die abzusehende Patentierungswelle werde den Zugang zu genetischen Ressourcen für die Züchter:innen noch weiter erschweren oder unmöglich machen. „Kleinere und mittlere ökologische und konventionelle Züchter:innen stehen damit vor dem Aus. Aktuell haben europäische Bäuer:innen einen großen Wettbewerbsvorteil, weil wir das erzeugen, was die Bevölkerung in Europa, aber auch Asien will: keine Gentechnik auf dem Teller. Diese etablierten gentechnikfreien konventionellen und ökologischen Märkte sollen nun für hypothetische Industrie-Versprechen geopfert werden, das ist nicht hinnehmbar. Deshalb fordert die AbL Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir und alle seine mitverantwortlichen Ministerkolleg:innen auf, diesen inakzeptablen Gesetzesvorschlag zurückzuweisen", so Volling.
Bioland: Freifahrtschein für die Neue Gentechnik
Eine Missachtung des Vorsorgeprinzips und die Öffnung von Tür und Tor einer zunehmenden Patentierung stellt der Entwurf für den Bioland-Präsidenten Jan Plagge dar. „Man kann ihn förmlich hören, den Jubel hinter den Türen der Gentechnik-Industrie. Sie hat es offensichtlich geschafft, die EU-Kommission von einem Freifahrtschein für die Neue Gentechnik zu überzeugen. Damit verbschiedet man sich in der EU vom lange gültigen Vorsorgeprinzip“, kommentiert Plagge.
Das Kernelement des geleakten Entwurfs ist für ihn die Einteilung der durch die neuen genomischen Züchtungstechniken (NGT) wie CRISPR/Cas erzeugten Pflanzen in zwei Kategorien: eine ohne und eine mit Zulassungsverfahren. Demnach würde der Großteil aller NGT-Pflanzen in die erste Kategorie fallen und damit weder auf Risiken geprüft noch am Endprodukt gekennzeichnet werden. Der Ökolandbau soll zwar für alle Gentechnik weiter verschlossen bleiben – wie gentechnikfreie Landwirtschaft künftig sichergestellt werden könnte, beschreibe der Entwurf jedoch nicht.
Zudem werden die Möglichkeiten von Mitgliedstaaten, den Anbau von genom-editierten Pflanzen vor Ort zu regeln und einzuschränken, abgeschafft. Sie dürfen auch lokal keine Einschränkungen mehr machen, wie es heute noch zum Beispiel in gentechnikfreien Regionen möglich ist. Jan Plagge: „Es ist absolut inakzeptabel, dass die Mitgliedsstaaten nun offenbar ihrer Souveränität beraubt werden und einer nicht gekennzeichneten Gentechnik einen Freibrief geben müssen. Das mag im Sinne der Gentechnik-Lobby sein – im Sinne der Menschen in Europa, die weiter wählen können wollen, ob sie zu Gentechnik greifen oder nicht, ist es nicht.“
Immerhin erkenne die EU-Kommission in dem Entwurf an, dass Gentechnik den Grundprinzipien von Bio widerspricht und hält den Ökolandbau für alle Gentechniken, auch die neuen, verschlossen. Das begrüßt Plagge grundsätzlich: „Um unsere Lebensmittelsysteme wirklich nachhaltig zu machen, müssen wir uns von vermeintlich einfachen, kurzfristigen Lösungen verabschieden. Die Gentechnik mit ihren bislang leeren Nachhaltigkeitsversprechen und einem engen Fokus auf bestimmte Gene oder Merkmale ignoriert die Komplexität der Wechselwirkungen der Ökosysteme. Damit steuern wir in die nächste Sackgasse von Abhängigkeiten und vergrößern die Instabilität unserer Agrar- und Ernährungssysteme.“ Bio hingegen brauche keine Gentechnik und biete einen systembasierten Ansatz, der Innovationstreiber für die gesamte Landwirtschaft sei.
Allerdings lässt der Gesetzes-Entwurf offen, wie Gentechnikfreiheit in der Praxis zukünftig funktionieren könnte: Denn bis auf die Kennzeichnung von Saatgut und einem Transparenzregister sind dort kaum Möglichkeiten beschrieben, wie eine Ko-Existenz von Bewirtschaftungsformen mit und ohne Gentechnik verursachergerecht geregelt werden kann.
Gänzlich außen vorgelassen werden von dem Entwurf alle Fragen der Patentierung. Dabei sei klar: die neue Gentechnik befeuert Patente – nicht nur auf Sorten, sondern vor allem auf genetische Eigenschaften, zum Beispiel auf bestimmte Resistenzeigenschaften von Wildsorten. „Es geht vor allem um ein sehr lukratives Geschäftsmodell für Agrochemie-Konzerne“, ist sich Plagge sicher. Die Befürworter behaupten, CRISPR/Cas und Co mache nichts anderes als herkömmliche Züchtung. Doch es handelt sich im Gegensatz zur klassischen Züchtung um ein (gen)technisches Verfahren – und das ist auch für die Konzerne wichtig, denn: pflanzliche Eigenschaften können nur patentiert werden, wenn sie durch ein technisches Verfahren erzeugt werden können. Damit fallen dann aber alle Sorten, auch die herkömmlich gezüchteten Sorten mit diesen patentierten Eigenschaften, unter das Lizenzsystem der Agrochemie.
„Abhängigkeiten der landwirtschaftlichen Betriebe von riesigen Konzernen werden dadurch gefördert. Auch in diesem Punkt ist der Gesetzesvorschlag in der durchgestochenen Form also völlig untauglich und die EU-Kommission darf ihn daher erst gar nicht auf den Verhandlungstisch bringen“, so Plagge.
Um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen, hatte die europäische Bio-Dachorganisation IFOAM Organics Europe auf ihrer Generalversammlung in Brüssel eine Resolution zur Neuen Gentechnik verabschiedet und diese an EU-Kommissar Janusz Wojciechowski überreicht.
VLOG: Fast unlösbare Aufgabe für „Ohne Gentechnik“ und Bio
Würde der Kommissions-Entwurf umgesetzt, müsste nach Ansicht des VLOG ein Großteil der Lebens- und Futtermittel, die mit neuen Gentechnik-Verfahren wie CRISPR hergestellt werden, nicht mehr gekennzeichnet werden. Auch Risikoprüfung und Zulassungsverfahren würden dafür entfallen, lediglich ein Registereintrag und eine Saatgut-Kennzeichnung wären noch vorgeschrieben.
„Gentechnik zu verschleiern ist eine ganz schlechte Idee. Das würde das Vertrauen in Politik und Lebensmittelwirtschaft massiv untergraben. Verbraucher:innen wollen zu Recht wissen, wie das Essen produziert wird, das sie kaufen. Die EU-Kommission setzt leichtfertig im Interesse weniger Akteure den großen Wettbewerbsvorteil der Landwirte, Hersteller und des Handels in Europa aufs Spiel, die international für gentechnikfreie Qualitätsprodukte stehen“, kommentiert Alexander Hissting, Geschäftsführer des Verbandes Lebensmittel ohne Gentechnik (VLOG).
„Mit diesem verkorksten Plan kann und darf die EU-Kommission nicht durchkommen. Das wäre nicht nur verbraucher- sondern auch wirtschaftspolitisch fatal. Die völlig willkürliche Unterscheidung zwischen kennzeichnungspflichtiger und nicht-kennzeichnungspflichtiger Gentechnik versteht kein Mensch. Nicht nur ‚Ohne Gentechnik‘, sondern auch Bio und alle anderen, die gentechnikfrei wirtschaften wollen, wären akut bedroht. Wie sollen sie in Zukunft sicherstellen, dass keine Gentechnik in ihre Produkte gelangt, wenn die nicht mehr gekennzeichnet werden müsste?“
Für Bioprodukte sollen laut EU-Pan wiederum doch alle „Neue Gentechnik“-Pflanzen weiterhin ausgeschlossen bleiben. Das würde der Bio-, wie auch der „Ohne Gentechnik“-Branche die fast unlösbare Aufgabe aufbürden, selbst dafür zu sorgen, dass ihre Produkte nicht mit Gentechnik verunreinigt werden, die jedoch in Land- und Lebensmittelwirtschaft in ungekennzeichneter Form allgegenwärtig wäre.
Bis zur geplanten Vorstellung Anfang Juli könnte sich der Vorschlag noch ändern. Erst danach beginnt der politische Prozess, in dem weitere Änderungen wahrscheinlich sind und am Ende Europaparlament und nationale Regierungen zustimmen müssten. In Deutschland ist die Ampel-Regierung gespalten: SPD und Grüne sind gegen die Deregulierungspläne der EU-Kommission, die FDP dafür.