In einem offenen Brief zur heutigen Sitzung des Europäischen Rates fordern Verbände aus Landwirtschaft, Umwelt-, Klima-, und Tierschutz Bundeskanzler Olaf Scholz dazu auf, den Vorschlag der Europäischen Kommission zur weiteren Aufweichung der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) abzulehnen. Die Verbände verweisen auf die eklatanten Folgen für den Arten-, Boden-, Klima- und Tierschutz sowie eine massive Benachteiligung für bäuerliche Betriebe, die bereits heute überdurchschnittliche Umweltleistungen erbringen. Der Abbau von Bürokratie und die wirtschaftliche Stärkung von Bäuerinnen und Bauern sind dringend notwendig, keinesfalls aber das einseitige und kurzfristige Schleifen von dringend benötigten ökologischen Grundanforderungen, so die Verbände.
Ottmar Ilchmann, AbL-Sprecher für Agrarpolitik und Landwirt in Niedersachen führt aus: „Alleine die Tatsache, dass die Aufweichung der GAP kurzfristig und ohne gesellschaftliche Debatte und Folgenabschätzung durchgezogen werden soll, ist der Tragweite der Entscheidung unwürdig. Sollte die Bundesregierung diesen Weg der Europäischen Kommission mitgehen, führt sie nicht nur den jahrelangen Prozess um die Reform der GAP im Jahr 2023 ad absurdum, sondern auch die Empfehlungen der Zukunftskommission Landwirtschaft zur GAP. Für uns Bäuerinnen und Bauern bedeuten die drohenden Aufweichungen nicht nur einen weiteren potenziellen Rückschritt im Bereich des Umwelt- und Klimaschutzes, der uns über kurz oder lang auch wirtschaftlich wieder auf die Füße fallen wird, sondern auch einen weiteren politischen Prozess mit Änderungen, Anpassungen und Unklarheiten. Planungssicherheit und Verlässlichkeit geht anders!“
Und NABU-Präsident Jörg-Andreas Krüger erklärt: “In diesen Tagen scheint in Brüssel das Gesetz zu gelten: Wer am lautesten ist, dessen Anliegen werden am meisten ernst genommen. Mühevoll entwickelte Schritte beim Natur- und Klimaschutz in der Landwirtschaft werden aufgeweicht, so als wären Klimakrise und Biodiversitätsverlust passé. Landwirtschaftliche Betriebe, die sich beim Natur- und Klimaschutz längst auf den Weg gemacht haben, haben das Nachsehen. Unser Appell an Bundeskanzler Olaf Scholz lautet daher: Lehnen Sie den Vorschlag der EU-Kommission ab und stellen Sie sich der Aufweichung ökologischer Standards in der EU-Agrarpolitik entgegen. Machen Sie sich dafür stark, dass die EU-Gelder dazu beitragen, landwirtschaftliche Betriebe natur- und klimakrisenfest zu machen.”
Für Gerald Wehde, Geschäftsleiter Agrarpolitik und Kommunikation bei Bioland, wird mit den Vereinfachungs-Vorschlägen der Begriff der gemeinsamen Agrarpolitik der EU ad absurdum geführt: „In Brüssel wirft man nun offensichtlich die Flinte ins Korn und verabschiedet sich von den eigenen Zielen, die man sich mit dem Green Deal und der Farm-2-Fork-Strategie selbst gesetzt hat. Denn mit dieser vermeintlich vereinfachten GAP lassen sich ganz sicher keine Pestizide wirkungsvoll reduzieren oder Arten und Umwelt schützen. Und es lassen sich auch kaum 25 Prozent Ökolandbau bis 2030 erreichen, wenn es keine Anerkennung der Leistungen der Bio-Betriebe für ihre gesamtbetrieblichen Umweltleistungen gibt.
Damit löst die Kommission einen Wettbewerb der Mitgliedsstaaten um die niedrigsten Umweltstandards aus und der Begriff der gemeinsamen Agrarpolitik der EU wird ad absurdum geführt. Wir fordern die Bundesregierung dazu auf, sich in Brüssel dafür einzusetzen, dass diese GAP-Aufweichung so nicht umgesetzt wird. Wir brauchen das Gegenteil: Wer mehr für die Umwelt leistet, muss entsprechend honoriert oder entsprechend entlastet werden. Und wir brauchen, ganz konkret, für gesamt-umgestellte Bio-Betriebe eine Anerkennung der GLÖZ-Standards 4 bis 8. Mit diesem ‚Green by concept‘ wird der Ausbau des Ökolandbaus vorangetrieben und das 25-Prozent-Bio-Ziel rückt näher“, so Wehde.
Sollte „absehbar sein“, dass für die in dem offenen Brief erhobene Forderung nach einer Ablehnung des Kommissions-Vorschlages keine Mehrheit im Rat zu erreichen ist, „dann muss die Bundesregierung alles daran setzen, die drohende Abschwächung der Grundanforderungen der GAP an eine verbindliche Aufstockung und Weiterentwicklung der freiwilligen Maßnahmen zur Honorierung von Umweltleistungen in der GAP zu knüpfen. Konkret muss der Kommissionsvorschlag in diesem Fall um eine verbindliche Anhebung des Budgets der Öko-Regelungen sowie einen erhöhten Spielraum für die Mitgliedstaaten zur gezielten Umschichtung von Finanzmitteln aus der ersten Säule in die Agrarumwelt- und Klimaprogramme der zweiten Säule ergänzt werden. Nur so kann sichergestellt werden, dass der ökologisch wie wirtschaftlich überfällige Umbau der Landwirtschaft nicht ausgebremst wird“, heißt es in dem Brief.
Zum Hintergrund
Am vergangenen Freitag wurde offiziell bekannt, dass die Europäische Kommission die bislang geltenden Mindeststandards zum Erhalt von Dauergrünland (GLÖZ 1), zum Erosionsschutz (GLÖZ 5), zur Bodenbedeckung in sensiblen Zeiten (GLÖZ 6) sowie zur Fruchtfolge (GLÖZ 7) sehr viel flexibler auslegend möchte als bisher. Die Verpflichtung zur Bereitstellung von Brachen für Betriebe, die nicht über eine ausreichende Menge an Hecken und Bäumen verfügen (GLÖZ 8), soll komplett gestrichen werden. Betriebe unter 10 ha sollen von allen Kontrollen und Sanktionen der Grundanforderungen - und damit auch von den Kontrollen des geltenden EU-Ordnungsrechtes - ausgenommen werden. Da der Vorschlag im „Eilverfahren“ (Fast track) durchgezogen werden soll, sind keine Anpassungen, Folgeabschätzungen oder nennenswerte gesellschaftliche Debatten zum Vorschlag vorgesehen.