30% Bio bis 2030: ehrgeizig oder illusionär

Ein kommentierender Blick auf die Situation zwischen formulierten Zielen und aktueller Realität von Marktbeobachter Hugo Gödde

Die Ampelregierung hat die Messlatte hoch, sehr hoch gelegt für ihr Leitbild Ökolandbau. Und beteiligt sich damit am olympischen Wettbewerb des „Schneller, höher, weiter“. Nachdem einzelne Landesregierungen für 2030 Richtwerte von 20% (NRW und Niedersachsen) über 30% (Biofläche in Bayern) bis 35% (Baden-Württemberg) anstreben und auch die EU-Kommission 25% für Europa bei „farm to fork“ angekündigt hat, will die grüngeführte neue Agrarregierung nicht zaghaft erscheinen. Sie will sich auch nicht abschrecken lassen von den Erfahrungen ihrer einstigen Agrarministerin Künast, die Anfang des Jahrhunderts zur BSE-Zeit für 2010 ein Ziel von 20% Bio propagiert hatte. Tatsächlich sind es heute, weitere 10 Jahre später, gerade einmal 10%, also die Hälfte geworden. Dennoch sind die Marktbeteiligten von Bäuerinnen und Bauern über die breit aufgestellten Verarbeiter bis zu den vielfältigen Handelswegen zufrieden mit dem „Bioboom“. Die Anteile wachsen kontinuierlich, biologisch gesprochen „organisch“, Überschüsse werden (meistens) vermieden und auch die Preise scheinen (meistens) einigermaßen auskömmlich. Wachstumsraten über 5%, manchmal 10% haben sich in den letzten Jahren eingependelt. Das ist im sonst eher stagnierenden Lebensmittelsektor sensationell. Verdreifachen, vervierfachen, verfünffachen Nun aber soll es mit einem „Wumms“ vorangehen, wie es der neue Kanzler sagen würde. 30% Bio bis 2030 ist die konkrete Zielmarke. Und zwar nicht nur auf dem Acker, sondern auch im Handelsregal will es die Ampel.
Betrachten wir die derzeitige Realität:
Zurzeit sind etwa 12% (= 34.000) der Betriebe und 10% (= 1,7 Mio. ha) der Fläche auf Bio umgestellt und es wird über alle Warengruppen etwa 7% Umsatz mit Bio erwirtschaftet. Unterstellt man keine Verluste agrarischer Flächen müssen in den nächsten acht Jahren etwa 3,4 Mio. ha umgestellt werden, das sind mehr als 400.000 ha jedes Jahr. In 2020 waren es 85.000 ha und das Wachstum lag mit 6% im Durchschnitt der letzten acht Jahre. Das Tempo muss sich also fast verfünffachen! Nehmen wir die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe, zurzeit etwa 263.000. Selbst wenn man einen verschärften Strukturwandel auf 210.000 in 2030 unterstellt, sind pro Jahr 4.000 bis 5.000 neue Biobetriebe erforderlich - mit einem gehörigen Flächenzuwachs. Im Jahre 2020 waren es laut BÖLW-Branchenreport 1303 (=4%) neue Bio-Höfe, in den letzten acht Jahren im Schnitt 1.500 landwirtschaftliche Biobetriebe. Auch für 2021 hat gerade das Ökovorreiter-Bundesland Bayern nur ein Wachstum von 5% bekanntgegeben. Mindestens dreimal muss sich die Rate erhöhen, will man das Bundesziel erreichen. Dabei weiß jeder, dass ein Umstellungsprozess mindestens zwei Jahre dauert. Die Umstellungsberatung wird sich sputen müssen, wenn das Ziel keine fata morgana sein soll. Den Handel mit Bio vervierfachen Aber ohne Vermarktung ist alles nichts. Aktuell wird der Biomarkt auf ca. 16 Mrd. € (= 7%) verkaufte Lebensmittel taxiert. Nach Angaben des Bundesverbandes des Lebensmittelhandels ist der LEH mit über 60% der mit Abstand größte Absatzkanal für Bioprodukte. Da die Regierung ja 30% der Warenregale mit Bio erobern will, ist hier mindestens eine Vervierfachung angesagt. Der Bio-Fachhandel, ein wichtiger Player am Markt, hat nach einem Rekordumsatz im ersten Coronajahr für 2021 ein Minus eingefahren. Trotzdem bleibt ein 7%-Wachstum im Schnitt der letzten drei Jahre, was die Naturkostbranche nicht unzufrieden stimmt. Aber von einem jährlichen Zuwachs von 20% für das Regierungsziel ist man weit entfernt. Die konventionellen Handelskonzerne sind grundsätzlich für die Ampel-Ambitionen offen und einem guten Geschäft nicht abgeneigt, bleiben aber zurückhaltend. Aldi-Süd nennt sich in seinem Vertriebsgebiet den „Bio- Händler Nr.1“ und will seinen Anteil ausdehnen. Man fordert mehr Anstrengungen für deutsche Erzeugnisse, die seien z.B. bei Milch und Fleisch überschaubar und wahrlich kein Selbstläufer. Aber immerhin macht der Handel mal ein Angebot und nicht den üblichen scharfen Preis- und Margendruck. Ohne ausländische Waren z.B. bei der Biomilch (ca. 30% kommt aus Österreich und Dänemark) oder beim Biofleisch (besonders Schweinefleisch liefern Holländer und Dänen) wären die Regale gegenwärtig nicht zu füllen. Auch Obst und Gemüse stammt wie beim konventionellen Markt aus wärmeren Ländern, der Eigenanteil an Bio-Tomaten und Paprika liegt um die 10%. Selbst Getreide wird zu 15% bis 20% eingeführt. Auch Lidl begrüßt eifrig die Zielsetzung und will bis 2025 immerhin 10% Bioprodukte verkaufen. Da ist bis 2030 noch viel Luft. Und die Discounter bestehen darauf, das „beste Preis- Leistungs- Verhältnis anzubieten,“ was immer das bedeuten mag. Dagegen steht der LEH-Leuchtturm „tegut“, der 2021 seine Bioverkäufe auf 30,5% Anteil gesteigert hat. Das ehemalige Gutberlet-Unternehmen, heute zu Migros aus der Schweiz gehörend, hat gezeigt, dass man mit gezielter Bio-Strategie und einem langen Atem durchaus nachhaltige Ergebnisse erzielen kann. Edeka äußert sich zurückhaltend. „Wenn die Kapazitäten zur Produktion dieser Ware vorhanden sind und die Nachfrage der Verbraucher diese Dimension erreicht, dann werden wir dieses Angebot auch in unseren Märkten zur Verfügung stellen“, heißt es lapidar. Interesse in der Landwirtschaft steigt – aber langsam Ambitioniert, aber machbar freut sich die Biobranche unisono - wenn bestimmte Voraussetzungen geschaffen werden. Die Lage ist durchaus optimistisch. Der Handel will mehr heimische Ware als er bekommt, die Nachfrage nach regionalen Produkten steigt, Corona hat den Trend zu Nachhaltigkeit noch verstärkt. Die großen Handelsplayer buhlen um Zertifizierungen von Bioverbänden, EU-Ware wird zur zweiten Wahl. Und endlich scheint sich auf Erzeugerseite was zu bewegen. Das Konjunkturbarometer Agrar weist im Auftrag des Deutschen Bauernverbandes ein Öko-Umstellungsinteresse von sage und schreibe 20% aus, wovon aber nur 1,3% den Umbau schon fest einplanen. Besonders kleinere Betriebe in Süddeutschland mit weniger als 50 ha stehen auf der Liste. Sogar der Bauernverband könnte sich ein Anteil von 20% Öko in den nächsten 10 Jahren vorstellen, wenn sich die Nachfrage kontinuierlich fortsetze. Aber das muss sich auch in der gesamten Agrarpolitik widerspiegeln. Der deutsche Strategieplan für die neue EU-Förderperiode z.B. benachteiligt bisher Grünland- und Biobetriebe und muss schleunigst bei den Öko-Regelungen („eco schemes“) überarbeitet werden. Staat oder Markt – wer ist der Treiber? Bei der Frage, wo das gewaltige Absatzwachstum herkommen soll, bleiben viele Marktkenner vage. Tegut Geschäftsführer Gutberlet erwartet, dass auch „große Marktteilnehmer“ mitmachen und der Weg in den Mainstream nicht der „vorherrschenden Start-up-Mentalität“ überlassen bleiben darf. Deren Dynamik und Innovationsbereitschaft müsse neu koordiniert werden. Dass den Zuwachs vor allem der hochkonzentrierte LEH/Discount antreiben soll, sehen viele Erzeuger und Verbände skeptisch. Solange der Biomarkt ein Angebotsmarkt ist und keine Überschüsse produziert werden, sind die Chancen für Verhandlungen auf Augenhöhe gegeben. Aber auch Bioland-Präsident warnt aktuell davor, dass der Handel notwendige Erzeugerpreissteigerungen verweigert, um sich als Inflationsbremse zu loben. Der Naturkosthandel wird seinen Teil zum Wachstumsziel beitragen können, aber seine Möglichkeiten sind begrenzt. Auch diese Branche steckt seit Jahren im Umstrukturierungsprozess. Schon jedes 4. Biogeschäft gehört mittlerweile zu einer der großen Ketten Denn’s, Alnatura, BioCompany, Superbiomarkt, ebl oder Basic.
Große Perspektiven im Export wie im konventionellen Markt sind überschaubar und (glücklicherweise?) auch nicht nötig.
Dann ist da noch die Hoffnung auf den Außer-Haus-Sektor, der auf 30% gepampert werden soll. Sowohl das Ministerium als auch die Bioverbände sehen große Möglichkeiten in der Gemeinschaftsverpflegung. Tatsächlich liegt der Bio-Anteil in den Großküchen, der Gastronomie und den Kantinen bei 1%. Um nennenswerte Erfolge in diesem Marktsegment zu erzielen, fordern Biofunktionäre bereits einen Anteil von 50% in staatlichen Einrichtungen. Fazit:
30% Bio bis 2030 sind ein ehrgeiziges Ziel, sehr ehrgeizig. Damit daraus nicht eine Illusion wird, das viele letztlich enttäuscht und frustriert, muss angesichts des kurzen Zeitraums von acht Jahren schnellstens eine Strategie her, die umfassend die verschiedenen Bereiche koordiniert. Davon ist bisher wenig zu sehen. Hoffnungen auf die EU und ihre Gelder der zweiten Säule oder auf die Gemeinschaftsverpflegung oder auf die Weisheit des Marktes erzeugen nicht den Mut, den die Beteiligten für die große Aufgabe der Transformation brauchen. Das gilt nicht nur für die „Ökos“, sondern genauso für die anderen 70 oder mehr Prozent der gesamten Land- und Ernährungswirtschaft. Nur wenn klug Erzeugung, Züchtung, Beratung, Wissenschaft, Forschung, Förderung, Verarbeitung und Vermarktung ineinandergreifen und mit Geld ausgestattet werden, könnte aus einem ambitionierten Versprechen ein Aufbruch werden, der auch der landwirtschaftlichen Seite eine dringend benötigte Perspektive bietet und die Ampel auf grün stellt. Für manche Kritiker ist 30% Bio ein Luftschloss, für andere nicht mehr als ein Versprechen im alten Marktmachtgefüge. Die Befürworter entgegnen: Nehmen wir es als Ansporn!
14.02.2022
Von: Hugo Gödde

Mit ganzseitigen Anzeigen in Tageszeitungen werben Lidl und Bioland aktuell für mehr Umsatz bei Bio.