Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir nimmt das Angebot der EU-Kommission zum Aussetzen von Fruchtwechsel und Flächenstilllegung an und sieht darin einen Kompromiss zugunsten der Ernährungssicherung. Während der Bauernverband die Entscheidung als „überfällig“ bezeichnet, kommt scharfe Kritik von Umweltverbänden. Sie sehen darin ein „Einknicken gegenüber der Agrarlobby“ und einen Verstoß gegen den Geist des eigenen Koalitionsvertrag zu Lasten von Umwelt und nachhaltiger Landwirtschaft. Für den grünen EU-Abgeordneten Martin Häusling hatte Özdemir bei der Entscheidung „keine andere Wahl“. Um eine endgültige Anbauplanung durch die Bäuerinnen und Bauern vornehmen zu können und somit Planungssicherheit zu erreichen, stehen jedoch noch Antworten des Bundeslandwirtschaftsministeriums aus.
Minister Özdemir hat seinen in der Bundesregierung abgestimmten Vorschlag zur Umsetzung der Kommissionsentscheidung zum Aussetzen von Fruchtwechsel und Flächenstilllegung, den Ländern unterbreitet. Der sieht laut BMEL vor, dass etablierte Artenvielfaltsflächen geschützt bleiben und Ausnahmen bei Fruchtfolgewechsel möglich sind. Zu seiner Entscheidung erklärt Bundesminister Özdemir: „Putin spielt mit dem Hunger und er tut dies auf Kosten der Ärmsten in der Welt. Gleichzeitig ist der Hunger bereits dort am größten, wo die Klimakrise schon voll zugeschlagen hat. Für mich gilt daher, dass jede Maßnahme zur Lösung einer Krise darauf hin überprüft werden muss, dass sie eine andere nicht verschärft.“
Die Landwirtschaft in Deutschland hat laut Özdemir ein Angebot gemacht, durch Beibehalten der Produktion die Getreidemärkte zu beruhigen und die EU habe den Rahmen zur Umsetzung geschaffen.
„Unsere Landwirtinnen und Landwirte brauchen Planungssicherheit, was sie in wenigen Wochen aussäen dürfen. Ich habe mich deshalb entschlossen, auf das Angebot einzugehen und gleichzeitig beim Artenschutz, beim Klimaschutz keine Verschlechterung zu erzielen. Was ich vorlege, ist ein Kompromiss, der an der einen oder anderen Stelle auch wehtut, denn er sieht vor, die eigentlich geplanten zusätzlichen Artenschutzflächen erst 2024 einzuführen. In 2023 können die Bauern dann auf diesen Flächen weiter Nahrungsmittel anbauen. Artenvielfaltsflächen und Landschaftselemente, die schon etabliert sind und längst dem Artenschutz dienen, bleiben unangetastet und dürfen nicht umgebrochen werden. Schließlich leisten sie schon einen wertvollen Beitrag für den Arten- und Klimaschutz und für eine nachhaltige Landwirtschaft“, so der Minister, der sich freut, „dass die EU meinem Vorschlag gefolgt ist und eine Ausnahme beim Fruchtfolgenwechsel zulässt. So können unsere Landwirtinnen und Landwirte im kommenden Jahr ein weiteres Mal Weizen auf Weizen anbauen. Auch das habe ich den Bundesländern jetzt vorgeschlagen. Auf diese Art und Weise gelingt es am besten, die Getreideerträge in Deutschland stabil zu halten und damit zur Stabilität der Weltmärkte beizutragen.“ Er schließe den Kompromiss für den Teller, nicht damit Getreide im Tank oder Trog landet und die Ausnahme gelte ausdrücklich nur für 2023. „Für mich steht auch fest, dass ich keine Verordnung unterschreiben werde, die den Hunger in der Welt als Argument missbraucht, um mehr für Tank und Trog zu produzieren und beim Artenschutz hinter das, was wir schon erreicht haben, zurückzufallen“, so Özdemir.
Der Vorschlag sieht laut BMEL vor:
Nach Ansicht des Bauernverbands (DBV) war diese Entscheidung überfällig und komme in letzter Minute. „Wir Bauern haben bereits mit der Anbauplanung für das kommende Jahr begonnen und brauchen Planungssicherheit. Eine Aussetzung für ein Jahr ist sicherlich nicht ausreichend. Um weiterhin eine sichere Lebensmittelversorgung gewährleisten und in Krisenzeiten reagieren zu können, müssen wir alle Flächen nutzen können, wo es landwirtschaftlich sinnvoll ist“, twittert der DBV.
DNR: Wichtige Anforderungen zum Schutz der Biodiversität vertagt
Scharfe Kritik an der Entscheidung kommt demgegenüber von Umweltverbänden. Der Umweltdachverband Deutscher Naturschutzring (DNR) kritisiert die Entscheidung der Bundesregierung als rückwärtsgewandt. „Mit dem Beschluss knickt die Bundesregierung vor der Agrarlobby ein und vertagt wichtige Anforderungen zum Schutz der Biodiversität in der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP). Somit fließen Millionen an Steuergeldern in die Agrarförderung, ohne an Fortschritte zur Eindämmung des Artensterbens geknüpft zu werden. Dies ist die falsche Antwort auf die aktuellen Herausforderungen“, kommentiert DNR-Geschäftsführer Florian Schöne auch mit Blick auf die trotz deutlicher Kritik von Umweltverbänden und von zahlreichen Wissenschaftler*innen erfolgte Entscheidung der EU-Kommission zur Aussetzung. „Resiliente Ernährungssysteme können wir nur erreichen, wenn wir langfristig unsere natürlichen Ressourcen sichern. Anstatt wichtige Umweltstandards aufzugeben, ist es dringend notwendig, ökologisch wertvolle Biodiversitätsflächen in der Agrarlandschaft zu sichern und auszubauen“, so Schöne weiter. Die Bundesregierung habe zumindest entschieden, die bislang bestehenden Brachflächen zu schützen, womit wichtige Ökosystemleistungen erhalten bleiben. Mit dem nun beschlossenen Aufschub rücke jedoch das Ziel einer Schaffung ausreichender Rückzugsflächen für die biologische Vielfalt in weite Ferne. Dabei liegen nach Ansicht des DNR die wesentlichen Flächenpotenziale für eine Stärkung der Ernährungssicherheit ohnehin woanders: der Anbau von Futtermitteln nimmt 60 Prozent, der Anbau von Energiepflanzen für Agrokraftstoffe 14 Prozent der Agrarflächen in Anspruch. Hier müsse die Bundesregierung ansetzen, wenn sie es ernst meint mit der Bereitstellung zusätzlicher Flächen für die Lebensmittelerzeugung.
DUH: Agrospritförderung stoppen und auf Fleischabgabe hinwirken
Scharf kritisiert wird die Entscheidung auch von der Deutschen Umwelthilfe. Der Umwelt- und Verbraucherschutzverband wirft der Bundesregierung vor, gegen den Geist ihres eigenen Koalitionsvertrags zu verstoßen. In diesem verspreche die Ampelkoalition eine ökologischere Agrarpolitik. Jetzt setze sie aber das Gegenteil in die Realität um: die Torpedierung des Artenschutzes, obwohl es für die Ernährungssicherung und auch klimapolitisch weit bessere Alternativen gibt, so der Verband. Die DUH fordert, jegliche Förderung für Agrosprit sofort zu beenden und Flächen für die Lebensmittelproduktion umzuwidmen, auf denen aktuell noch Pflanzen für umweltschädliche Agrokraftstoffe oder Futtermittel angebaut werden. Das hätte gleichzeitig einen sehr viel größeren Effekt für die Ernährungssicherung, weil es um vielfach größere Flächen geht.
Dazu erklärt Sascha Müller-Kraenner, Bundesgeschäftsführer der DUH: „Eben weil wir die Ernährung von Menschen sichern müssen, dürfen nicht die viel zu wenigen und ertragsschwachen Artenschutzflächen weichen, während wir gleichzeitig immer noch 3,4 Millionen Tonnen Getreide und Ölsaaten jedes Jahr in den Tank werfen und 60 Prozent des Getreides in Deutschland für Futtermittel verwenden. Das ist Irrsinn! Damit verstößt die Bundesregierung klar gegen den Geist ihres Koalitionsvertrages, in dem genau Gegenteiliges versprochen wurde. Und sie nimmt mutwillig in Kauf, dass für viele Arten wie etwa für stark bedrohte Feldvögel überlebenswichtige Rückzugsflächen in der intensiv genutzten Agrarlandschaft fehlen. Wir fordern Landwirtschaftsminister Özdemir auf, jetzt tatsächlich etwas für die Ernährungssicherung zu tun und die Agrospritförderung sofort zu stoppen und mit Hilfe der Fleischabgabe zügig auf eine Reduktion der Tierbestände hinzuwirken."
Eine Reduktion der Tierbestände wirke sich indirekt positiv auf die Ernährungssicherung aus, weil Futterflächen dann für den Anbau von Grundnahrungsmitteln genutzt werden können. Das Landwirtschaftsministerium verspricht sich von seiner Entscheidung einen Mehrertrag an Lebensmitteln, die betroffenen Flächen seien aber ertragsarm. Der ökologische Schaden und die Zerstörung des Artenreichtums zuzulassen, ist aus Sicht der DUH nicht aufzuwiegen mit dem zu erwartenden geringen Ertrag.
„Das Bundeslandwirtschaftsministerium will, dass auf den freizugebenden Artenschutzflächen nur Lebensmittel angebaut werden sollen. Wie aber will das in Berlin ansässige Bundeslandwirtschaftsministerium überprüfen, ob nicht doch dort angebaute Pflanzen in den Tank oder in den Tiertrog wandern? Das ist kaum zu kontrollieren. Außerdem sind die Flächen zwar artenreich, aber meist sehr arm an Ernteerträgen. Von der Entscheidung profitieren daher wohl kaum die Hungernden, sondern die Pestizidhersteller, für deren Produkte die Anwendungsfläche vergrößert wird", so Reinhild Benning, Agrar-Expertin der DUH.
Häusling: Wir haben eine Verteilungs-, keine Versorgungskrise
Vor dem Hintergrund der EU-Vorgaben hat Özdemir letztlich gar keine andere Wahl, meint Martin Häusling, agrarpolitischer Sprecher der Grünen im Europäischem Parlament und Mitglied im Umweltausschuss. „Zur Erinnerung: Die bedauerliche Entscheidung der Bundesregierung kam nicht allein auf Druck von Bauernverband und Agrarindustrie zustande. EU-Agrarkommissar Janusz Wojciechowski hat mit dem Rechtsakt vom 27. Juli im Grunde genommen den Rahmen gesetzt. Er gab mit seiner Entscheidung, Fruchtwechsel und Nichteinsaat für ein Jahr auszusetzen, die Leitlinien vor.
Angesichts der Tatsache, dass alle anderen EU-Mitgliedsländer und die Mehrheit der Agrarminister der Bundesländer in Richtung der Aussetzung gehen, bleibt Cem Özdemir eigentlich keine andere Wahl. Klar bleibt nach den Ankündigungen Özdemirs, dass der Verzicht auf die ökologisch wichtigen Instrumente auf ein Jahr begrenzt bleibt und bisherige ökologische Vorrangflächen davon unberührt sind. Das reduziert die Aussetzung der Stilllegung auf zwei Prozent der Ackerflächen“, erklärt Häusling.
Tatsächlich würden in dieser Diskussion um den Anbau zusätzlichen Weizens jede Menge Nebelkerzen geworfen. Denn es gehe mitnichten darum, dass die Welt mehr Weizen benötigt, um die Hungerkrise zu bekämpfen. „Es geht nicht um eine Versorgungs-, sondern allein um eine Verteilungskrise“, so der EU-Abgeordnete.
Zugleich versuche die Lobby verzweifelt, unter dem Vorwand der Hungerkrise von einer ganz anderen Wahrheit abzulenken: Bei uns wandern immer noch 60 Prozent des Getreides nicht auf dem Teller, sondern in den Futtertrog. Weitere 20 Prozent gehen in Tank und Industrie, und nur 20 Prozent der Körner dienen direkt der menschlichen Ernährung.
„Das eigentliche Ziel, einen Beitrag zur Verringerung des Hungers der Welt, kann die Absage an Fruchtwechsel und Nichteinsaat also gar nicht erreichen. Stattdessen werden die seit Jahrzehnten bekannten, besorgniserregenden Defizite im Artenschutz weiter zunehmen. Der Verzicht auf die ökologischen Vorgaben ist zudem auf Dauer noch nicht einmal im Interesse der Landwirtschaft selbst, da sich die schwindende Artenvielfalt in Form von immer weiter steigenden Ausgaben für Pestizide und Dünger rächt. Auch davon lenken Bauernverband und Agrarindustrie gerne ab“, so Häusling abschließend.
Noch offene Fragen zur Umsetzung
Um endgültige Planungssicherheit für die Bäuerinnen und Bauern zu erzielen, muss noch die Frage geklärt werden, welche Auswirkungen ein Aussetzen auf die Auszahlung von EU-Förderprämien und Direktzahlungen hat. Das Problem hatte Minister Özdemir auch als eine Begründung bei seiner Nicht-Entscheidung zur Aussetzung im Rahmen der Agrarministerkonferenz genannt und dafür auch die Unterstützung von Werner Schwarz (CDU) erhalten, der vom Bauernverband als Minister in das schleswig-holsteinische Landwirtschaftsministerium gewechselt war. Das Problem: Wer bestimmte Öko-Regelungen oder Agrarumweltmaßnahmen anwenden will, muss laut entsprechender Verordnung der EU-Kommission auch bei einer Aussetzung der Stilllegungspflicht die Mindeststandards zum guten landwirtschaftlichen und ökologischen Zustand GLÖZ 7 (Fruchtwechsel) und GLÖZ 8 (Stilllegung; Acker-Bracheflächen) weiterhin einhalten. Beispiel Stilllegung: Diese soll laut Öko-Regelung mit Zahlungen zwischen 1.300 und 300 €/ha und 150 €/ha (Blühstreifen) gefördert werden. Wird jetzt von der Aussetzung zur Stilllegung Gebrauch gemacht, gehen den Betrieben möglicherweise erhebliche Fördersummen verloren. Eine Nachfrage von agrarheute beim Bundeslandwirtschaftsministerium, ob die Aussetzung von der Pflichtstilllegung mit der Weiterführung der Öko-Regel zur freiwilligen Stilllegung bzw. zur Anlage von Blühflächen kombiniert werden kann oder nicht, konnte das Ministerium derzeit noch nicht beantworten. Und auch eine entsprechende Nachfrage zur Fruchtfolge konnte das Ministerium laut agrarheute noch nicht beantworten.