“Wir brauchen jeden Quadratmeter Boden” für den Anbau von Weizen, um “leere Teller in Europa” und Hunger in der Welt zu verhindern. Mit diesem Argument erkämpften Agrar-Lobbyisten und ihre politischen Verbündeten im Frühjahr 2022 das Aussetzen der Greening-Auflagen aus der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP). 21 Mitgliedstaaten nutzten 2022 die EU-Ausnahmeregelung und ackerten die für die Biodiversität gewidmeten Ökologischen Vorrangflächen (ÖVF) für die landwirtschaftliche Produktion um.
Doch wie eine neue Analyse von der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft, BirdLife International, Birdlife Österreich, Corporate Europe Observatory und GLOBAL 2000 zeigt, wurden auf diesen bisher für die Biodiversität bestimmten Flächen keine Lebensmittel, sondern Tierfutter wie Mais und Soja sowie die Ölsaat Sonnenblume angebaut. Die Summe der Öko-Vorrangflächen in der EU verringerte sich 2022 im EU-Durchschnitt um 40 % und in Österreich sogar um 56 %.
“Um die landwirtschaftliche Produktivität auch in Zukunft zu erhalten, müssen mindestens 10 % der landwirtschaftlichen Fläche für die biologische Vielfalt genutzt werden. Wir fordern die EU-Kommission auf, dieses Ziel der EU-Biodiversitätsstrategie zu verfolgen und die schädlichen und kontraproduktiven EU-Ausnahmeregelungen für Brachflächen nicht weiter zu verlängern: Der Anteil wertvoller Flächen für die biologische Vielfalt in der europäischen Landwirtschaft muss erhöht werden!”, so die Organisationen BirdLife Europe, die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft, Corporate Europe Observatory und GLOBAL 2000.
Anbaufläche für Brotgetreide weniger als 1 Prozent
Genaue Zahlen über die auf den Ökologischen Vorrangflächen angebauten Kulturen kommen aus Österreich. Dort wurden, wie eine Anfrage von GLOBAL 2000 nach dem Umweltinformationsgesetz beim Landwirtschaftsministerium ergab, über 70 % der umgeackerten Öko-Flächen für den Anbau von Mais und Soja genutzt und nur 0,6 % (!) für Brotgetreide (Weizen und Roggen).
"Politiker:innen und landwirtschaftliche Interessensvertreter:innen argumentierten mit der Bekämpfung des Hungers im Globalen Süden für das Aussetzen der Greening-Auflagen - produziert wurde jedoch fast nur Tierfutter. Das ist Ausdruck einer zynischen Politik, die den realen Hunger im Globalen Süden instrumentalisierte, um Umweltmaßnahmen der Europäischen Agrarpolitik auszuhöhlen”, sagt Helmut Burtscher-Schaden, GLOBAL 2000 Umweltchemiker. “Zur Linderung des Hungers - dieser ist bekanntlich weniger ein Problem der Verfügbarkeit als des Zugangs zu Lebensmitteln - leistete das Aussetzen der Greening-Maßnahmen keinen Beitrag. Sie dienten nur den kurzfristigen wirtschaftlichen Interessen einiger weniger und gingen auf Kosten der Gesellschaft und der Umwelt. Essenzielle Bestandteile der Farm to Fork- und Biodiversitätsstrategie werden von konservativen politischen Kräften in allen drei EU-Institutionen heftig angegriffen. Es ist zutiefst besorgniserregend, dass diese Kräfte irreführende und wissenschaftlich nicht belegte Behauptungen aufstellen und damit eine EU-Politik verhindern, die ebenso so dringend ist wie eine solide Klimapolitik", ergänzt Hans van Scharen, Forscher bei CEO.”
Politik gegen den Konsens der Wissenschaft
Die Wissenschaft stellte sich von Beginn an klar gegen die Forderungen der Agrar-Lobbyisten: Die ohnehin zu geringen Biodiversitätsflächen dürften keinesfalls weiter dezimiert werden, sondern sollen langfristig ausgeweitet werden. Die bestehende landwirtschaftliche Fläche solle verstärkt für die Erzeugung von Lebensmitteln genutzt werden. „Europas Reaktion auf die durch den Krieg in der Ukraine ausgelösten Turbulenzen an den Agrarmärkten war jedoch das genaue Gegenteil dessen, was die Wissenschaft empfohlen hat – und was zudem zentrale Strategie des European Green Deal ist, zu dem sich EU-Parlament und Rat bekannt haben“, beklagt Marilda Dhaskali, EU-Beauftragte für Landwirtschaft und Bioenergie von BirdLife Europe: „Sollte sich in der EU eine Politik durchsetzen, die entgegen dem wissenschaftlichen Konsens agiert, dann werden wir an der Herausforderungen durch die Klima- und die Biodiversitätskrise kläglich scheitern.“
Zum Schaden der Landwirtschaft
„Wir dürfen nicht eine Krise gegen die andere ausspielen. Ohne den Artenschwund aufzuhalten, können wir mittel- und langfristig keine Ernährungssicherheit gewährleisten. Dabei sind die so genannten ‚nicht produktiven Flächen‘ wichtig für Böden, Bäuer:innen und Biodiversität, denn sie verbessern die Bodenfruchtbarkeit und bieten notwendige Lebensräume zum Erhalt der Artenvielfalt“, erklärt Henrik Maaß von der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL): „Statt einseitig auf Ernährungssicherheit zu setzen, muss die GAP weiterentwickelt werden in Richtung einer weltweiten Ernährungssouveränität, die nur mit Agrarökologie, dem Schutz der Gemeingüter und Gerechtigkeit entlang der Wertschöpfungskette erreicht werden kann. Die Beibehaltung der Brachflächenpflicht gehört dabei genauso dazu wie eine angemessene Honorierung der von Bäuer:innen erbrachten gesellschaftlichen Leistungen.“