Kommentar: Milchviehhaltung am Scheideweg

Milcherzeugerpreise auf Rekordniveau prägten die zweite Jahreshälfte 2022. Erinnert sich noch jemand daran? Dem beispiellos schnellen und starken Anstieg 2022 bis auf deutlich über 60 Cent folgte im neuen Jahr ein noch rasanterer Einbruch. In großen Schritten von teilweise acht oder zehn Cent pro Monat rauschte der Milchpreis nach unten, um sich wieder dort einzupendeln, wo er auch schon die Jahre vorher meistens lag, nämlich ca. zehn Cent unterhalb der Kostendeckung. Und so folgte der kurzen Euphorie wieder der übliche Katzenjammer. Wobei man nicht vergessen darf, wer für den Absturz maßgeblich mitverantwortlich ist: wir Milcherzeuger selbst, zumindest ein großer Teil von uns. Nach dem alten Reiz-Reaktions-Schema hat der gute Preis wieder die Gier geweckt, davon in möglichst hohem Maße zu profitieren, und dadurch haben wir uns unseren Markt selbst kaputtgemolken. Wobei zum Ende der Preisrallye durchaus der Verdacht aufkommen konnte, manche Molkereien hätten bewusst hohe Anreize geschaffen, damit der Milchmotor wieder anspringt. Denn Rohstoff im Überfluss, der dann entsprechend billig ist, ist das Lebenselixier gerade der großen genossenschaftlichen Verarbeiter, die Standard-Massenware produzieren.

Das traurige Paradebeispiel ist hier wieder einmal der Branchenriese Deutsches Milchkontor DMK, der schon seit Monaten um zehn bis 20 Prozent weniger auszahlt als die direkte Konkurrenz! Auffällig ist überhaupt die große Spreizung der Auszahlungspreise. Während im Norden viele Molkereien schon lange wieder bei 35 bis 38 Cent liegen, bekommen bayrische Kolleg:innen immer noch bis 45 Cent.

Besonders prekär stellt sich die Lage im Biomilchsektor dar. Selbst in der Hochpreisphase im letzten Jahr war hier keine Kostendeckung zu erzielen, und seither ist der Preis durch hohes Angebot und inflationsbedingt geringere Nachfrage deutlich zurückgegangen.

Fazit: Unter den Milchbäuerinnen und -bauern herrscht wieder gedrückte Stimmung. Viele haben jetzt innerhalb von fünf Monaten 25 Cent am Milchpreis verloren. Über ein Drittel! Welcher Betrieb bekommt dabei eine vernünftige Kalkulation hin? Auch die zaghaften Andeutungen der Politik, über Verbesserungen der Marktrahmenbedingungen etwas für die Milcherzeuger:innen zu tun, stoßen eher auf Skepsis bis Gleichgültigkeit. Höhere Anforderungen von Politik und Handel, wie der Ausstieg aus der Anbindehaltung und die Bevorzugung höherer Haltungsstufen, erhöhen den Druck zusätzlich. Das alles verursacht Frust und Unsicherheit, bei vielen ist der Ausstiegsbeschluss bereits gefasst. Gerade potentiellen Hofnachfolger:innen ist es nicht zu verübeln, wenn sie sich anderweitig orientieren. Und so schafft der anhaltende Strukturwandel Tatsachen. Wie viel Prozent der Milch werden überhaupt noch in Strukturen erzeugt, die das Prädikat „bäuerlich“ verdienen? Wie viel Prozent der Milchkühe kommen noch in den Genuss von Weidehaltung? Noch gibt es, im Gegensatz zum Schweinesektor, bei Kühen eine Vielzahl betriebsindividueller, an den Standort angepasster Haltungssysteme, von denen viele noch hohe gesellschaftliche Akzeptanz genießen. Das Bild der Kuh auf der Weide ist immer noch Ausdruck einer vielleicht auch ein wenig verklärten Sehnsucht nach bäuerlicher Landwirtschaft. Nur wenn wir diese gesellschaftlichen Wünsche aufgreifen, wenn wir die Zusammenarbeit mit NGOs weiter intensivieren, die uns darin unterstützen, kann der Erhalt möglichst vieler Bauernhöfe gelingen. Und umgekehrt muss die Gesellschaft, müssen NGOs immer die wirtschaftlichen Belange bäuerlicher Betriebe mit im Blick haben und vertreten. Erste gute Ansätze wie das gemeinsame Eintreten mit Greenpeace für faire Marktbedingungen, das breite gesellschaftliche Bündnis „Inifair“ für faire Preise in der Lieferkette und die ganz aktuelle Unterstützung der Verbändeplattform für eine Ökoregelung zur Förderung von Grünland und Weidehaltung gibt es bereits. Dieser gesellschaftliche Rückhalt sollte für ein grün geführtes Ministerium Anlass genug sein, die politischen Weichen für den Erhalt einer Milcherzeugung in bäuerlichen Betrieben zu stellen. Alles andere wäre ein Armutszeugnis!