Getreidekorridor unklar, Preise unter Druck, Märkte nervös, Gewinne bleiben

Marktbeobachtungen von Hugo Gödde

Zurzeit ist es selbst für eingefleischte Getreidehändler und erfahrene Spekulanten die Lage nicht einfach zu analysieren. Seit fast zwei Jahren schlägt der Markt für Weizen und Ölsaaten Purzelbäume. Die Pariser und Chicago-Börsen, die ja die Preise der nächsten oder übernächsten Zukunft vorbestimmen, spielen irgendwie verrückt. Auch Börseninsider wissen häufig nicht, ob sie sich in einem Bullen-(steigend) oder Bären-(fallend)Markt befinden. Oft wechselt die Richtung. Aktuell zeigen die fundamentalen Daten eher nicht nach oben, aber wer weiß das schon in diesen irrlichternden Zeiten. Sicher ist nur, dass Unübersichtlichkeit und Krisen immer eine gute Basis für Abenteurer und Krisengewinner sind.

Getreidehändler berichten kurz vor dem Ende des laufenden Wirtschaftsjahres über sehr hohe Lagerbestände aus der alten Ernte – nicht nur in Osteuropa, sondern auch in Deutschland und in Frankreich. Diese Ware hat es zunehmend schwerer, am Markt zu akzeptablen Preisen verkauft zu werden.
Zudem verhandeln Russland und Ukraine noch um die Verlängerung des Korridors. Aber selbst diese Unsicherheit treibt die Preise anders als vor Monaten nicht mehr hoch. Inzwischen sind gute Ernteaussichten in Europa, den USA oder Russland genauso marktrelevant wie der Ukraineexport.

Getreide- und Rapspreise stürzen seit Monaten ab – Markt der Extreme

Der Getreideboom als Folge der Energie-und Düngerverteuerung und des Russland-Ukrainekrieges hatte im letzten Mai den Weizenpreis über 400 €/t getrieben, den gesamten Markt in Panik versetzt und Hungerszenarios in Asien und Afrika ausgelöst. Seit Öffnung des Schwarzmeerkorridors im Juli 2022 hat sich die Lage deutlich entspannt, ja teilweise ist sie ins Gegenteil gekippt. Das Fachmagazin „Agrarheute“ titelte in den letzten Wochen im Dauerstress:

  • „Getreidepreis voll im Risiko – Märkte extrem nervös“ (8.5.23)
  • „Getreidepreis fallen unter die Kosten  – die Lage wird sehr kritisch“ (2.5.23)
  • „Getreidepreis stürzen abwärts – Ernteprognosen und hoher Import“ (27.4.23)
  • „Preise fallen unter Gewinnschwelle – Europas Bauern wütend“ (11.4.23)
  • „Heftige Bauernproteste in Rumänien – zu viel ukrainisches Getreide“ (10.4.23)
  • „Flut ukrainischen Getreides“ (31.3.23)

Im letzten Sommer sah das noch anders aus. Bis zur Öffnung des Getreidekorridors für ukrainische und russische Ware waren die Getreidepreise „Spielball globaler Kräfte“, wie es ein Analyst vorsichtig ausdrückte. Anfang Juli 2022 berichtete die Börse von einem dramatischen Absturz und von Vorkriegspreisen, um eine Woche später einen Ausbruch nach oben zu vermelden, weil in Europa schlechte Ernten drohten. Danach ging es abwärts bis 320 €/t, um Ende August/September wieder auf breiter Front bis 360 € zu steigen. Als Grund wurden Dürren in China und Ernteschäden in Europa, Kanada und Südamerika angegeben. Das änderte sich ab November. Seither fiel der Preis kontinuierlich auf heute 230 €/t. Selbst die Zögerlichkeit und Drohungen der Russen in den letzten Wochen, die Schwarzmeerexporte einzuschränken, brachten keine Wendung mehr. Schon damals waren sich Marktkenner einig, dass ein großer Teil der Preisschwankungen nicht von der Entwicklung an den Getreidemärkten selbst komme. Vielmehr gerate der Markt auch unter dem Verkaufsdruck, wie sie es nennen „von den zahlreichen makroökonomischen Einflussfaktoren und Schwankungen wie etwa wachsender Rezessionsangst und dem jüngsten Preisverfall bei Rohöl und Metallen.“ Diese „externen Einflüsse“ erhöhen die Schwankungen und treiben die Geschäfte der wenigen globalen Händler.

Osteuropäische Proteste gegen ukrainische Getreideeinfuhren

Wieder hat der Markt sich gedreht. Von Knappheit ist keine Rede mehr. Große Mengen an russischem Getreide aus der Rekordernte 2022 drängten neben der Ukraineware über den Bosporus nach Europa, China und in andere Länder. Über den Seeweg wurden seit Juli etwa 30 Mio. Tonnen verschifft. Daneben hat man mit EU-Hilfen zollfreie Solidaritätskorridore über den Landweg in die EU entwickelt, die - sicherlich deutlich weniger als über den Seeweg - aber vor allem für osteuropäische Staaten den Markt zusammenbrechen ließen.

Tausende Landwirte protestierten in Rumänien, in Polen und in Bulgarien gegen die Auswirkungen der ukrainischen Getreideimporte auf die Getreidepreise und blockierten den Verkehr und die Grenzkontrollen mit Traktoren und Lastwagen und forderten die Europäische Kommission auf, einzugreifen.

Die Landwirte berichten, dass die ukrainischen Importe die lokalen Märkte überschwemmen und ihre Preise deutlich unterbieten. Seit dem vergangenen Jahr verzichtet die EU auf Zölle und Einfuhrkontingente für ukrainische Agrarprodukte, um den Transport auf Drittlandsmärkte zu erleichtern. Nun wächst unter den Landwirten in Mittel- und Osteuropa der Frust über die Flut billiger ukrainischer Getreideimporte, die eben nicht weitertransportiert werden.

Die EU- Kommission schätzt, dass Landwirte aus Polen, Rumänien, Ungarn, Bulgarien und der Slowakei insgesamt 417 Mio. Euro durch den Zufluss von billigerem ukrainischem Getreide verloren haben. Insgesamt hätten 9 Mio. t Getreide aus der Ukraine die Grenze nach Rumänien überquert, davon seien aber 2,5 Mio. t im Land verblieben. In Polen seien es 3,5 Mio. t gewesen, die den Markt belastet hätten. Nach heftigen Blockaden der Bauern hat die EU mal wieder mit einem zusätzlichen millionenschweren Hilfspaket den Konflikt gedämpft, zugleich aber die Unzufriedenheit von 13 (vor allem westlichen) Ländern hervorgerufen, die die mangelnde Transparenz der Geldgießkanne kritisieren.

Außerdem geht die Sorge um, wie sich Europas Getreideproduktion entwickelt wird, wenn die Ukraine tatsächlich in den EU- Binnenmarkt integriert wird und mit billigen pflanzlichen Waren (Getreide, Raps, Sonnenblumen) den Markt dominiert.

Viele Gewinner trotz Turbulenzen

Noch ist nicht abzusehen, ob sich der Markt nun auf ruhigeres Fahrwasser zubewegt. Aktuell stehen noch die Verhandlungen über das Getreideabkommen, das morgen endet, im Mittelpunkt. Ob es noch solche Wirkungen zeigt wie vor Monaten, ist umstritten.

Die Konsequenzen der Preisentwicklung auf Vorkriegsniveau zeigen sich aber schon deutlich. Der Preisrückgang der Futtermittel hilft den Tierhaltern erheblich. Schweinehalter sind endlich mal wieder in den schwarzen Zahlen, und Milchviehhalter können dem Milchpreisverfall kostenmäßig etwas entgegensetzen. Zwar widersetzen sich die Futtermittelhändler noch mit Händen und Füßen, die gesunkenen Preise weiterzugeben. Sie müssen noch die hohen Beschaffungspreise des letzten Jahres ausgleichen, argumentieren sie. Zugleich belegen die Bilanzen 2022 die Rekorderlöse des „Ausnahmejahres“. Der Agrarvis-Konzern (die größte Agrarhandels- und Dienstleistungsgenossenschaft im Norden) verdoppelte seinen Gewinn im letzten Jahr auf 61 Mio.€ und konnte von Januar bis April das Ergebnis vor Steuern sogar noch um 50% erhöhen. „Ein zukunftssicheres Ergebnis“ nannte es der Finanzchef, um nicht als Krisengewinner zu wirken. Auch die BayWa AG vermeldete ein Rekordergebnis in 2022. Trotz eines Ergebnisrückganges seit Jahresanfang sprach der Vorsitzende von einem „starken Auftaktquartal und eine gute Ausgangsbasis für den weiteren Geschäftsverlauf.“

Nebenbei: der Düngerkonzern „Kali und Salz AG“ bilanzierte trotz vieler Probleme in der Logistik (und eines hohen „Jammerniveaus“) ein Rekordjahr. Zurzeit klagen sie über die abwartende Haltung der Landwirte beim Düngereinkauf.

Auch auf die Erzeuger- und Nahrungsmittelpreise wirken sich die gefallenen pflanzlichen Agrarpreise aus. Laut Statischem Bundesamt sanken die Erzeugerpreise für Getreide im Vorjahresvergleich um 30%, bei Raps gar um 44%. Diese Werte sind im April beim Verbraucher noch nicht angekommen. Brot und andere Getreideerzeugnisse stiegen weiter an, wenn auch nicht mehr so stark wie vorher. Nicht wenige Unternehmen verspüren einen „Nachholbedarf“, wie Marktkenner kritisieren.

Der Marktbeobachter stellt fest, dass es für den Getreidesektor trotz (oder wegen?) der vielen Krisen (Energie, Lieferketten, Personal) und der Preiskapriolen ökonomisch keine schlechte Zeit ist. Die Ackerbauern verdienten gut und der Futtermittelhandel, besonders die vielfältig aufgestellten Konzerne meldeten ein Rekord- und Ausnahmejahr. Die Zeche zahlen die Verbraucher:innen mit einer hohen Inflation, bedingt auch durch krasse Lebensmittelpreise.
Übrigens: Auch der im letzten Jahr lautstark vorgetragene Ruf nach höherer deutscher Produktion zur Dämpfung des Hungers in der Welt ist leiser geworden. Der Getreidemarkt bleibt ein Spielball der Börsen und der multinationalen Händler und nicht der landwirtschaftlichen Erzeuger.