Hungerbekämpfung oder Preissenkung?

Was nützen die Getreidelieferungen aus der Ukraine? Marktbeobachtungen von Hugo Gödde

Mit dem Ukrainekrieg und den fehlenden Getreideexportmengen baut sich eine zusätzliche Hungersnot auf, hieß es im Frühjahr. Wer jetzt nicht sofort mögliche Anbaubegrenzungen aufhebe, gefährde die Versorgungssicherheit und versündige sich an den Kindern in Äthiopien oder Ägypten. Die Flächenstilllegung wurde EU-weit gekippt, um den Hunger zu bekämpfen.

Ein „Leuchtfeuer für die Welt“ bezeichnete UNO-Generalsekretär Guterres den Erfolg der Verhandlungen um Getreideexporte aus der Ukraine. Seit Anfang August sind drei Häfen am Schwarzen Meer geöffnet. Aber von 200 Getreideschiffen aus den gesperrten ukrainischen Häfen liefen nur 22 Afrika an. Das meiste ging in die EU - und die EU kommt in Rechtfertigungszwang.

Russlands Präsident Putin behauptet einen Betrug. Schließlich sehe das geschlossene Abkommen vor, dass Russland den Export durch die verminten Häfen ausschließlich zur Linderung der Hungerkrisen in betroffenen Ländern genehmigt habe. Er warf im September der EU vor, anders als vereinbart Getreide aus ukrainischen Häfen nicht in die ärmsten Länder der Welt zu verschiffen, sondern auf seine Märkte zu holen. Putin drohte damit, das Getreideabkommen zu kündigen.

Von 200 Schiffen nur 22 nach Afrika

Anhand von Tracking-Daten hat der „Spiegel“ nachverfolgt, welche Häfen die Getreideschiffe seit Ende der russischen Blockade ansteuerten. So seien vom 1. August bis Mitte September 200 Schiffe aus den Häfen der Ukraine ins Schwarze Meer ausgelaufen. 82 Schiffsladungen fuhren in die EU, vor allem nach Italien und Spanien. 72 meist kleinere Schiffe liefen die Türkei an und nur 22 Frachter seien tatsächlich nach Afrika gefahren; weitere 28 gingen in die restliche Welt.

Wie der Spiegel weiter berichtet, sind einige Transporte undurchsichtig. So soll ein Schiff in der Türkei sein Getreide entladen haben. Angeblich, um es dort zu mahlen und anschließend als Mehl in den Jemen zu liefern. Das lasse sich aber nicht prüfen. Auch welchen Weg Getreide über Binnenschiffe, Züge und Lkw nimmt, sei nicht nachverfolgbar.

Erst vier Wochen nach Beginn der Operation hatten die ersten von der UNO gecharterten Schiffe für Äthiopien und Jemen ihre Zielhäfen erreicht. Dafür haben die vereinten Nationen gesorgt. Die privatwirtschaftlichen Frachten suchten sich die Exporteure „nach kaufmännischen Gesichtspunkten“ aus, d.h. wer am meisten zahlt. Und die hohen Frachtkosten und Risiko-Prämien bis tief nach Afrika bremsen die Aktivitäten der Exporteure, denn sie schmälern ihre Profite, so Branchenkenner.

Eine „Spiegel“ Auswertung der Schiffsbewegungen zeigt es ganz deutlich. Mit Abstand auf Platz 1 steht die EU (2,1 Mio. t), gefolgt auf Platz 2 von der Türkei (679.000 t). Platz 3 der Empfängerländer belegt China mit 399.000 t, danach kommt Ägypten (313.000 t). Weit zurück liegen Länder wie Israel, Indien und Südkorea. Die wirklich bedürftigen Staaten wie Jemen, Sudan, Somalia, Libanon, Dschibuti, Syrien oder Libyen tauchen weit abgeschlagen mit verschwindend geringen Mengen auf.

Es geht um Stabilisierung der Weltmärkte?

Schon ändert sich – zumindest bei Marktverfechtern – die Argumentation. Es gehe, so beispielsweise Prof. Dr. Matin Qaim von der Uni Bonn, gar nicht so sehr darum, wohin aktuell das Getreide gehe, sondern dass sich die Weltmarktpreise entspannen. Man müsse zwar die Not in Afrika im Blick haben, aber nicht unbedingt dadurch, dass man jetzt in die privatwirtschaftlich organisierten Märkte eingreife. Tatsächlich ist der globale Weizenpreis auf etwa 320 – 340 € je Tonne gesunken, liegt aber immer noch deutlich über dem Niveau vor dem Krieg. Schon damals war der Brotpreis in vielen Ländern kaum bezahlbar. Also geht es gar nicht in erster Linie darum, die „hungernden Kinder“ in Afrika und Nahost zu sättigen, sondern die Getreidemärkte zu beruhigen, vielleicht die Spekulation und die Zufallsgewinne zu begrenzen und den Weltmarktpreis zu stabilisieren. Aus einer gedacht großmütigen Geste der Verhandler blieb ein schnödes Geschäft von Handelskonzernen, Schiffseignern, Brokern und Finanzjongleuren übrig.

Ähnlich defensiv äußert sich auch die EU- Kommission. Die UN-Vereinbarung zur Freigabe ukrainischen Getreides auf dem Seeweg habe „zu einem Preisrückgang auf den Weltmärkten“ geführt. „Alle Getreidemengen, die aus der Ukraine in die EU gelangen, führen entweder direkt oder indirekt zu einem erhöhten Angebot für Drittländer.“ Tatsächlich hatten die meisten Schiffe seit Anfang August Mais geladen, der meist in viehreichen Ländern als Futtermittel verwendet wird. Nicht umsonst ist ein erheblicher Teil des ukrainischen Maises nach Spanien geflossen, weil dort wegen der wochenlangen Dürre das Futter für die wachsende Schweineproduktion benötigt wurde.

Hauptsache Geschäfte

Aber die Rechtfertigung wird noch drastischer. Nicht jede Lieferung aus der Ukraine in arme Länder werde überhaupt benötigt, sagt Qaim: „Mais wird beispielsweise im nordafrikanischen oder arabischen Raum kaum gegessen.“ Fokussiere man sich ausschließlich auf die Zielhäfen der Schiffe, so wie Putin es mache, könne man leicht einen verzerrten Eindruck gewinnen.

Auch der deutsche Agrarhandelsverband findet es nicht verwerflich, dass ein Großteil der Agrarprodukte aus der Ukraine in westlichen Häfen landet. Dadurch würden dort Kapazitäten frei. Weizen, der beispielsweise schon in Rostock liegt, könne dann in andere Länder außerhalb der EU exportiert werden. Um Putins Vorwürfe zu entkräften, müssten sich Juristen nun also die Verträge anschauen, was dort niedergeschrieben wurde und wohin Schiffe liefern dürfen oder müssen.

Natürlich hat die EU-Kommission im Grundsatz recht. „Wir würden diese Diskussion und diese Nahrungsmittelkrise nicht haben, wenn Russland seine Aggression gegen die Ukraine nicht gestartet hätte.“ Auch der Diebstahl ukrainischen Getreides durch die russische Armee ist nicht zu rechtfertigen.

Der Marktbeobachter wird aber den Eindruck nicht los, dass es nicht um Nahrungsmittelversorgung oder Hungerbekämpfung geht. Hauptsache die Geschäfte der Agrargroßindustrie, Exportmultis und Getreidespekulanten laufen wieder wie geschmiert. Es bleibt dabei, dass der Hunger in der Welt kein Erzeugungs-, sondern ein Problem der Verteilung und Kaufkraft ist. Globale Geschäftemacherei versteckt sich mal wieder hinter der moralischen Attitüde der Hungerbekämpfung der Ärmsten. Man kann es auch Heuchelei nennen.