Marktbeobachtungen von Hugo Gödde +++ Über die Preisrallye am Getreidemarkt staunen selbst erfahrene Marktexperten. Und die Erklärungen für das Auf und Ab der Getreidepreise drücken eher Hilflosigkeit als klare Analyse aus. Seit Monaten prasseln wöchentlich neue, oft widersprüchliche Meldungen auf die Ackerbauern ein. Der Weizenpreis rutschte z.B. an der Pariser Börse, dem maßgeblichen europäischen Umschlagplatz, von 240 €/Tonne im Oktober auf 180 €/t Anfang März ab, um bis Ende Mai auf 270 €/t zu springen und Ende August auf 200 €/t zu purzeln – immer hinterlegt von wechselnden Einschätzungen über die Ernteprognosen in aller Welt. An der weltweit bedeutendsten Börse in Chicago wird mit 180 €/t gehandelt. Der heimische Erzeugerpreis liegt bei 190 €/t bei Weizen und 170 €/ bei Gerste. Auch für die nächsten Monate ist laut Termingeschäften kaum mehr zu erwarten.
Die Preisrallye im Zeitraffer
Nehmen wir die Meldungen der Fachzeitschrift „agrarheute“ aus den letzten drei Monaten als Beleg:
21.5.: Landwirte bekommen mehr Geld für Weizen
4.6.: Getreidepreise fallen trotz Überflutungen
7.6.: Getreidepreise stürzen ab – Marktschock für Getreidebauern
12.6.: Getreidepreise brechen nach oben aus
20.6.: Getreidepreise fallen heftig
24.6.: Getreidepreise im Abwärtsstrudel – Wettermärkte spielen verrückt
28.6.: Getreidepreise steigen weiter
3.7.: Getreidepreise fallen wieder
8.7.: Getreidepreise brechen mächtig ein
19.7.:Getreidepreise klettern steil nach oben
22.7.: Getreidepreise steigen nach Rallye weiter
29.7.: Getreidepreise fallen erneut
6.8.: Getreidepreise unter Druck
12.8.: Getreidepreise fallen – trotz extrem schlechter Ernte in Frankreich
19.8.: Warum fallen die Getreidepreise so stark?
26.8.: Getreidepreise stürzen heftig ab – neue Tiefpreise für Weizen und Mais
27.8.: Getreidepreise steigen endlich – mehr Geld für Weizen, Mais und Raps
Da staunt der Fachmann...
Selbst eingefleischte Analysten hatten kaum Zeit, die jeweils neuen Trends zu verstehen und zu bewerten. Für die Getreidebauern war die ständige Frage: verkaufen (mit Vertrag) oder einlagern und auf Besserung hoffen – und das in einer ständig durch Regen, teilweise Überschwemmung unterbrochenen Erntesituation. Die jeweils neuesten Wetterberichte aus den Zentren des Anbaus und des Exports gaben die Grundlage für Börsentrends und Preissprünge.
Starke Regenfälle in Frankreich, Trockenheit in Südrussland, gute Bestände in Mittelwesten der USA, rechtzeitiger Regen in Zentralrussland, Ukraine und im US-Cornbelt – Trockenheit hier und Überschwemmungen dort in China sowie nicht zuletzt wechselhafte Prognosen der US-Agraradministration ließen der Volatilität (Sprunghaftigkeit) der Märkte freien Raum. Nicht zuletzt die (politisch bedingten?) billigen Exporte aus Russland und der Ukraine ließen den Preis immer wieder abstürzen. Selbst die Marktkenner mussten mit Verwunderung zur Kenntnis nehmen, dass ukrainisches Getreide in großen Mengen zur Verfügung stand – weitgehend aus den Schwarzmeerhäfen um Odessa verschifft. Noch im letzten Jahr hatten viele westliche Politiker Putin verurteilt, als er das Schwarzmeer-Abkommen, mit dem Ukraine-Getreide in alle Welt, vor allem nach Afrika exportiert werden sollte, nicht verlängerte. Nicht wenige sahen Russlands Politik von „Getreide als Waffe“ bestätigt. Tatsächlich ist seitdem mehr Getreide aus der Ukraine exportiert worden als während des Abkommens. Es ist Kiew gelungen, den Seekorridor offen zu halten und zusätzlich über Donau, Schiene und Straßen den Export zu aktivieren – zum Verdruss der polnischen Bauern, die sich mit großen, billigen Getreidemengen konfrontiert sahen. Zeitweise soll das Getreide aus der fruchtbaren schwarzen Erde etwa 100 bis 150 €/t gekostet haben und auch den Weg in zahlreiche deutsche Häfen und zu hiesigen Agrarhändlern gefunden haben.
Versorgung nicht gefährdet, aber der Export
Festzuhalten bleibt, dass der Preis für die Leitwährung Weizen (und in der Folge für Gerste und Mais) verfiel. Obwohl die Ernte in Frankreich, dem wichtigsten Getreideland der EU, ein Viertel hinter den letzten Jahren zurückblieb, konnte sich der Preis nicht recht erholen. Das ökonomische Gesetz „schlechte Ernte = gute Preise“ wurde ausgehebelt. Auch DBV-Präsident Rukwied konnte sich auf seiner Ernte-Pressekonferenz nicht erklären, wie es bei der kleinen Ernte (minus 10% zum Vorjahr) zu solch geringen Getreidepreisen kommen könne. Er sah schon ein Versorgungsrisiko am Horizont. „Die Gefahr (der Versorgungsengpässe) ist real“. Für die Ackerbauern ist eher der Absturz der Rentabilität das Problem Nr. 1. Es ist zu befürchten, dass vor allem die großen viehlosen Pflanzenbaubetriebe im Osten und Norden sich kaum ruhig verhalten werden.
EU kann sich selbst versorgen und ist zweitgrößter Exporteur
Dabei ist eine ungenügende Selbstversorgung kein dringliches Thema. Nach Daten der EU-Kommission liegt der Weichweizen in der EU bei 123% (2023) und trotz der miesen Ernte in diesem Jahr bei 119% Eigenversorgung. Die Lage bei Gerste ist mit 128% sogar noch komfortabler. An Nahrungsgetreide exportiert die EU mit 48 Mio. Tonnen etwa 18% der Produktion. Zugleich wurden 28 Mio. t (vor allem aus der Ukraine) importiert. Außer bei Körnermais für Tierfutter und Hartweizen für Nudeln ist die Selbstversorgung locker gesichert. Im Gegenteil führt die EU noch viel Nahrungsgetreide aus und ist nach Russland zweitgrößter Weizenexporteur der Welt - weit vor Kanada, Australien, USA oder Ukraine.
Außerdem, so die EU-Kommission, werden lediglich 59 Mio. t der Getreideernte für die menschliche Nahrung genutzt. Mit 23% wird kaum mehr selbst gegessen als exportiert. Der größte Anteil des Verbrauchs (ca. 60%) geht in die Verfütterung, davon etwa 40% Mais, 30% Futterweizen und 20% Gerste. Der Rest wird in der Industrie eingesetzt (Bioethanol u.a.).
Die Abnehmerländer des EU-Weizen liegen vor allem in Nordafrika, aber auch China, Nigeria und Nahost. Damit konkurriert der EU-Export (vorneweg Frankreich) unmittelbar mit Russland, Ukraine und USA. Weizenhandel bleibt ein globales Geschäft mit wenigen internationalen Konzernen und ist eine Hochburg der Spekulation, so dass selbst ausgewiesene Börsen- und Marktexperten den Verwirrungen des Systems mal wieder hilflos gegenüberstehen.
Der Marktbeobachter fragt sich, ob das die Ernte- und Getreidepreissituation der Zukunft ist. Hin- und hergerissen durch die Bedrängnis von zu großer Trockenheit und/oder zu viel Nässe. Ganz offensichtlich werden die Schwankungen immer größer mit allen Schwierigkeiten, wie man den Kapriolen begegnen soll. Welche Sorten soll man anbauen, welche Fruchtfolgen, wie die Bestandsführung, welcher Pflanzenschutz, welche Technik usw. – die Fragen werden immer hektischer und dringender. Viele einfache Rezepte der Vergangenheit taugen nicht mehr. Gefragt sind konkrete standort- und umweltgerechte Antworten, die wahrlich nicht einfach zu finden sind. Auch der Ackerbau steht vor einer Transformation, wobei der Klimawandel und die Ernährungssouveränität das Zepter führen werden.
