Weizen Ernte 2022 – ein Appell aus aktuellem Anlass!

Anpassung der Qualitätsbewertung und Ernährungssicherheit durch regionale Versorgungsstrukturen

Über die Umstände der „Weizenproduktion“ und die drohende Verschärfung der Hungerkrisen wird seit der Ukraine-Krise in allen Medien berichtet. Die Hintergründe für die Preisentwicklung – sowohl der Erzeuger- als auch der Verbraucherpreise – werden selten betrachtet. Noch weniger im Blickfeld steht eine sichere regionale Versorgung der Bevölkerung mit diesem Grundnahrungsmittel – weder in den Ländern des Südens noch bei uns. Gänzlich unter dem Radar stehen Erkenntnisse, welche Qualitäten notwendig sind, um gesundes Brot für die menschliche Ernährung backen zu können. Müssen es die durch hohen Düngereinsatz auf hohen Eiweißgehalt getrimmten Weizenmengen sein oder geht es auch anders? Und wie notwendig ist die Förderung regionaler Netze für eine zukunftsgerichtete Entwicklung?

So beginnt ein Appell der unabhängigen Berufsorganisation Die Freien Bäcker, in dem steht, „was jetzt getan werden muss“. Mit der Veröffentlichung der 9-seitigen differenzierten Stellungnahme zum Thema Weizen hoffen Die Freien Bäcker, „dass dieser Beitrag konstruktive Diskurse sowie den notwendigen Wandel fördert, der die im Appell angesprochenen Sachverhalte rund um das derzeit im Fokus stehende Grundnahrungsmittel WEIZEN betrifft.“

In dem Appell heißt es beispielsweise unter Punkt 3. Bewertungsmaßstäbe, Handel und Verarbeitung:

Der Bewertungsmaßstab „Rohproteingehalt“ sowie der „Rapid-Mix-Test (RMT)“, mit dem das erzielbare Gebäckvolumen von Weizenmehl bestimmt wird, liefern nicht in ausreichend zutreffendem Maße die Information, ob sich in der Praxis aus einem bestimmten Weizenmehl sensorisch gute Brote und Gebäcke mit dem gewünschten Volumen herstellen lassen. „Bei modernen Weizensorten (seit 1990 zugelassen) wurden die Korrelationen zwischen den Ergebnissen des RMT und indirekten Qualitätsparametern, wie z. B. Proteingehalt und Sedimentationsvolumen, immer schwächer [FREIMANN, 2005; SELING, 2010]. Somit ist derzeit die Vorhersage der Backqualität deutlich erschwert und unzuverlässig.“

Es gibt eine Reihe von Weizensorten am Markt, ob aus der biologischen oder konventionellen Züchtung, die mit Mehl-Proteingehalten von z.T. deutlich unter 13 % Rohproteingehalt „sehr gute“ Backqualitäten (definiert mit ≥ 660 ml Volumen/100g Mehl) liefern. Entscheidender, ob sich aus einem Weizenmehl sensorisch gute und sehr gute Backwaren herstellen lassen, ist die Qualität des Kleberproteins (Feuchtkleber). Sie wird maßgeblich von der Genetik der Weizensorte bestimmt. Fest steht bereits jetzt, dass die Auswahl der Sorte beim Anbau von Qualitätsweizen, insbesondere auch im Hinblick auf Nachhaltigkeitsaspekte, in Zukunft eine noch größere Rolle spielen wird.

Aus Sicht der Praktiker*innen bedarf die Beurteilung der backtechnischen Funktionalität von Weizen dringend einer Neubestimmung der indirekten Bewertungsparameter und eines optimierten Backtests. Dieser direkte Qualitätstest muss sich an der Praxis der Teigherstellung orientieren und  ermöglichen, genaue Vorhersagen über die erzielbare Produktqualität zu machen. Diese Notwendigkeit ist seit vielen Jahren hinreichend bekannt.

Im Zusammenhang mit Kritik an der neuen Düngeverordnung und mit Diskussionen zur Reduzierung der Stickstoffdüngung wird immer wieder auf die Behauptung zurückgegriffen „Bäcker fordern hohe Rohproteinwerte“. Dazu: Lediglich für die Herstellung bestimmter Weizenbackwaren aus Auszugsmehl werden hohe Gehalte an Kleberprotein (Feuchtkleber) mit hoher Teigstabilität (Knet- und Gärtoleranz) benötigt. Dazu zählen beispielsweise luftig-voluminöse Schnittbrötchen aus Auszugsmehl, die als Teiglinge gekühlt oder eingefroren und auf Abruf von früh bis spät in Backshops und Ladenbacköfen gebacken werden. Diese haben weder einen hohen, nachhaltigen Sättigungswert noch sollten sie aus ernährungsphysiologischen Gründen täglich im Einkaufskorb landen. Generell trifft die oben genannte Behauptung nicht zu.

Dennoch wird, insbesondere im Handel mit konventionell erzeugtem Getreide, weiterhin der Rohproteingehalt als der Bewertungsmaßstab verwendet und entscheidet somit über den Auszahlungspreis für Weizen. Dieses Kriterium ist aber weder ausreichend zweckdienlich noch mit notwendigen Nachhaltigkeitskriterien vereinbar. Erklärlich ist diese Blockadehaltung des Handels im besten Fall nur damit, dass bei international gehandeltem Weizen der Proteingehalt über den Preis bestimmt und Weizen mit hohem Proteingehalt von anderen Ländern nachgefragt wird. Dazu kommt, dass bei der Erfassung der angelieferten Weizenmengen, insbesondere in und direkt nach der Ernte, der Proteingehalt schnell, einfach und kostengünstig zu bestimmen ist.

Dass es noch immer kein Testverfahren gibt, mit dem die Backqualität schnell, verlässlich und praxisnah zu bestimmen ist, hat fatale Folgen: Landwirte und Landwirtinnen, sind wider besseres Wissen weiterhin ökonomisch gleichsam „gezwungen“, Weizen mit hohem Rohproteingehalten abzuliefern. Dies hat wiederum negative Folgen für das Klima, die Umwelt und somit für uns alle. Die sachgerechte Neubewertung der Backqualität von Weizen zeigt deutlich auf, dass mit geringeren Stickstoffmengen gute Qualitäten von Backweizen zu erzeugen sind.

Es könnte schon längst anders sein! Nachgewiesen ist, dass Weizensorten mit hoher Kleber-Proteinqualität weniger Stickstoff benötigen, um sehr hohe Volumenausbeuten zu erzielen. Auch die Erfahrungen in der Praxis zeigen, dass sich mit Weizensorten, die von ihrer Genetik her eine vorteilhafte Kleber-Qualität mitbringen und auch mit weniger Stickstoff ausreichende Proteinmengen bilden, Backwaren mit sehr gutem Backvolumen herstellen lassen  – sogar ohne Verarbeitungshilfsstoffe.

Ein langsamer Fortschritt zeichnet sich dennoch ab. Bisher 2019 wurde der Rohproteingehalt einer Weizensorte bei der Zuordnung in die entsprechende Qualitätsgruppe (E, A, B, C) durch das Bundessortenamtes als eines der Kriterien eingesetzt. Das Bundessortenamt hat dies im Jahr 2019 geändert.

Aus Sicht des Berufsverbandes Die Freien Bäcker e.V. und vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus der Praxis, kann klar festgestellt werden, dass die gängige Praxis der Bewertung von Weizen anhand des Rohproteingehaltes seit Jahren reformbedürftig ist. Verlautbarungen wie „Bäcker fordern hohe Rohproteingehalte“ stehen auf der gleichen Stufe wie „Verbraucher fordern billige Lebensmittel“. Dies sind im besten Fall Mutmaßungen, die auch durch die permanente Wiederholung nicht in die Nähe solider, brauchbarer Aussagen gelangen.

Als Lösungsansatz wird in regionalen Bio-Wertschöpfungsketten die Backqualität von Weizen anhand der indirekten Parameter Feuchtklebergehalt, Sedimentationswert und Fallzahl (z.T. auch Glutenindex) bewertet. Zwischen Mühlen, Bäckereien und Landwirtschaftsbetrieben wird häufig auch vereinbart, welche Sorten angebaut und mit welchem Qualitätsprofil zu welchem Preis nach der Ernte abgenommen werden. Bevor Getreide aufgrund von witterungsbedingten Qualitätseinbußen ins Tierfutter geht, kann und sollte erst einmal genau geprüft werden, welche Mahlerzeugnisse und Gebäckarten dennoch daraus herzustellen und zu vermarkten sind. Dies betrifft die Mühlen wie auch die Bäckereien und setzt, neben umfassendem Wissen, eine gute Kommunikation der Wertschöpfungsketten-Partner*innen voraus. Die extremen Konzentrationsprozesse in der Mühlenwirtschaft einschließlich der weiteren Lücken in regionalen Wertschöpfungsketten (fehlende lokale und sachgerechte Lagerkapazitäten sowie Anlagen zur Trocknung, Reinigung und Entspelzung von Getreide) machen es den wenigen verbliebenen lokalen Mühlen allerdings oft schwer, Mehl über Qualitäts- und Nachhaltigkeitsmerkmale zu vermarkten statt über einen Preis, der letztendlich ihren eigenen Bestand gefährdet. Erläuternd ist hier auf die Folgen der Nicht-Einrechnung gesellschaftlicher (ökologischer und sozialer) Kosten sowie auf die durch Skaleneffekte erreichte Marktmacht großer Unternehmen zu verweisen. Bestehende Wettbewerbsungleichheiten führen dazu, dass bereits zehntausende von lokalen Verarbeitungsunternehmen vom Markt gedrängt wurden und es bestehende Unternehmen wie lokale Mühlen und Bäckereien schwer haben, sich am Markt zu behaupten.

Dennoch macht Einiges Mut und zeigt bereits wie es anders geht. Wenn etwa Witterungsverhältnisse die Backqualität beeinträchtigen, sind Bäcker*innen in kleinräumigen Strukturen, in denen es gute persönliche Kontakte entlang der Wertschätzungskette gibt, häufig bereit, ihr ganzes Know-how in die Waagschale zu werfen, um die Ernte dennoch zu verarbeiten. Vertrauen, Verbundenheit und Gemeinschaftssinn, die so entstehen, sind von großer Bedeutung um Krisen gemeinsam zu meistern und gestärkt daraus hervor zu gehen. Dies ist ein Baustein von resilienten, regionalen Versorgungsstrukturen.

Der Appell mit den entsprechenden Links findet sich auch auf der Homepage der Freien Bäcker hier.

06.09.2022
Von: FebL/PM

Illustration zum Appell der Freien Bäcker. Bildquelle: Die Freien Bäcker