Der Stopp des Schwarzmeer-Getreideabkommens – Fakten, Propaganda und Aussichten

Marktbeobachtungen von Hugo Gödde +++ Russland hat das Abkommen für Getreidelieferungen über das Schwarzmeer nicht verlängert. Schon beklagen Händler das Marktchaos, das sich in den letzten Tagen entwickelt. Spekulationen schießen ins Kraut und der Weltmarktpreis steigt. Über die Ergebnisse des Schwarzmeer-Deals und die Auswirkungen des Scheiterns der Verlängerung spalten sich die Meinungen je nach politischer oder ideologischer Haltung.

Propagandaschlacht ums Getreideabkommen

Der US-Außenminister nannte die Aufkündigung „skrupellos“. UN-Generalsekretär Guterres zeigte sich tief enttäuscht. Das Abkommen sei eine "Rettungsleine für die globale Ernährungssicherheit und ein Leuchtturm der Hoffnung in einer aufgewühlten Welt" gewesen“. Die UNO werde sich weiterhin für die Ernährungssicherheit und die globale Preisstabilität einsetzen. Bundeskanzler Scholz nannte es „eine schlechte Nachricht“. Außenministerin Baerbock richtete an Putin den schrillen Appell, „im Sinne des Friedens“ Hunger nicht als Waffe einzusetzen.

„Russland hat das Feuer der weltweiten Nahrungskrise weiter angefacht. Infolgedessen haben Familien auf allen Kontinenten Probleme, über die Runden zu kommen, und Kinder gehen jede Nacht hungrig zu Bett. Und jetzt, mit der Ankündigung, sich aus der Schwarzmeer-Getreide-Initiative zurückzuziehen, droht Moskau noch mehr Menschen, noch mehr Kindern mit dem Hungertod“, so Baerbock.
(Nebenbei: Das erinnert an die Angriffe rechtspopulistischer agrarischer Kräfte zu Beginn des russischen Überfalls gegen Minister Özdemir, er würde bewusst Kinder in armen Ländern verhungern lassen, wenn er die beschlossene EU-Flächenstilllegung von 4% nicht aussetze.)

Russland beklagt, dass die UN eingewilligt habe, sich für die ungehinderte Ausfuhr russischer Lebensmittel und Düngemittel auf die Weltmärkte einzusetzen. Putin verlangte etwa, dass Russlands Landwirtschaftsbank wieder an das internationale Zahlungssystem SWIFT angeschlossen werden solle, weil es sonst keine zahlungssicheren Geschäfte und Versicherungen abschließen könne. Die Umsetzung sei bis heute nicht gegeben. Außerdem sei vereinbart worden, dass die Lieferungen vor allem an bedürftige Entwicklungs- und Schwellenländer gehen sollten, was wiederum die UN nicht bestätigt. Die Folgen des Stopps sind schwer abschätzbar, befürchtet werden aber steigende Preise und Versorgungsrisiken. Der Deutsche Bauernverband sieht vorerst keine Engpässe auf dem deutschen und europäischen Markt, obwohl laut EU- Kommission die europäische Ernte wegen der Dürre in diesem Jahr voraussichtlich die schlechteste seit fast zwanzig Jahren sein wird.

Faktencheck: Wohin die Ukraine ihr Getreide exportiert hat

Seit die Export-Einigung im Juli 2022 unter Vermittlung der Vereinten Nationen und der Türkei zustande kam, wurden nach UN-Angaben 32,9 Mio. Tonnen Getreide, Sonnenblumen, Soja, Öle und weitere landwirtschaftliche Produkte im Wert von circa neun Milliarden US-Dollar über drei ukrainische Schwarzmeerhäfen verschifft. Mais liegt mit 51% an der Spitze vor Weizen 27%, 12% Sonnenblumen bzw. Öl, Gerste, Soja und Rapssaat mit je ca. 3%.

Wer nun erwartet, dass arme Regionen Afrikas die Zielländer des Getreideabkommens („Black-Sea-Grain-Initiative“) sind, wird enttäuscht. Mit großem Abstand an der Spitze liegen China mit 8 Mio.t (25%) und Spanien 6 Mio. t (18%). Es folgen Türkei mit 3,2 Mio t, Italien 2,1 Mio.t und die Niederlande mit 1,9 Mio.t. In diese big 5-Länder wurde zwei Drittel exportiert. Erst danach kommen mit Ägypten, Bangladesch, Israel und Tunesien kleinere, aber noch keine armen Länder. Deutschland rangiert auf Platz 15 mit 0,4 Mio.t.

Nach einer Berechnung der Weltbank flossen 44% in reiche Länder (EU, Arabien, Israel), 37% in Länder mit höherem Einkommen, 17% mit unterem Einkommen und 2,4% in arme Länder (Äthiopien, Jemen, Afghanistan, Somalia, Sudan). Im seit Jahren bürgerkriegsumkämpften Jemen kamen mit 260.000 Tonnen gerade einmal 6% der Gesamtgetreideimporte aus der Ukraine – mehr wurde nicht geliefert oder kam günstiger aus Indien und Australien.

Hungrige Schweine statt hungrige Kinder

Tatsächlich ging also der Großteil des Getreidedeals nach China und Europa und landete dort nicht auf den Tellern von hungernden Kindern, sondern in den Mägen von Schweinen. Besonders China und Spanien können aus dem eigenen Land ihre Tiere nicht satt bekommen. Und gerade Spanien (130% Selbstversorgung) exportiert das Fleisch dann um die halbe Welt.

Zutreffend ist aber auch, dass durch das Abkommen höhere Mengen auf den Weltmarkt kamen, so dass der Getreidepreis um 20-30% sank. Das half den armen Ländern, überhaupt Brotweizen bezahlen zu können. Ohne die Unterstützung des Welternährungsprogramms der UNO wäre auch das kaum möglich gewesen. Außerdem waren die extremen Preise im Frühsommer 2022 den Börsenhändlern und Spekulanten geschuldet, die die turbulente Marktsituation nutzten und erst nach und nach die Preise zurücknahmen.

„Vergessen wir nicht“, machte Minister Özdemir auf einen anderen Aspekt aufmerksam, die Agrarexporte der Ukraine „beruhigen die Weltmärkte und sorgen so für bezahlbare Nahrung - und bringen der Ukraine überlebenswichtige Einnahmen.“

Der Getreidedeal ist endgültig zu einem zentralen Teil des Krieges geworden. Ohne Exporte ist die Liquidität der Ukraine angegriffen. Und ein hoher Preis nutzt den gewaltigen russischen Getreideausfuhren. Man wird sehen, ob sich der Markt jetzt wieder den Preisen vor dem Abkommen nähert oder ob die Luft aus der Spekulation heraus ist. Aber das hängt auch von den dürregefährdeten Ernten in Europa und USA/Kanada ab. Krieg und Klimawandel – zwei Katastrophen ergänzen sich.

China ist für eine Fortsetzung der Lieferungen

Nicht überraschend ist die erneute Aufforderung Chinas an beide Parteien, schnell eine ausgewogene Lösung für die berechtigten Interessen beider im Getreidestreit zu finden und die Ausfuhren von Getreide und Düngemitteln aus Russland und Ukraine bald wieder aufzunehmen. Schließlich ist China der größte Profiteur des Deals, um seine Schweine ernähren zu können und den Getreide- und Fleischpreis niedrig zu halten. Die Ukraine ist mit 9 Mio. t in 2022 – hauptsächlich Mais als Viehfutter - der drittwichtigste Getreidelieferant Chinas hinter den USA (40 Mio.t) und Australien (15 Mio.t) vor Argentinien, Kanada und Frankreich. Einfuhren aus Russland sind äußerst gering und kein Ersatz.

Für Peking ist die Landwirtschaft „ein Grundpfeiler der nationalen Sicherheit“ (Xi Jingping). Zugleich ist das Reich der Mitte der weltgrößte Importeur von Nahrungsmitteln. Dabei ist man traditionell stark abhängig von den USA, ihrem strategischen Rivalen und zugleich teuren Partner. Ukraine war im letzten Jahrzehnt eine alternative Option, die nun in Gefahr ist. Mit Verträgen sucht man verstärkt neue Partner, z.B. Australien und Brasilien.

Für China ist der Stopp des Abkommens eine schlechte Nachricht. Die eigenen Nahrungsmittel dürften teurer werden, außerdem stellt man sich gern als Interessenvertreter der Entwicklungsländer dar, die aus nationaler Sicht hohe Brotpreise fürchten.

Dass Putin offenbar gewillt ist, trotzdem gegen die Interessen Chinas zu handeln, zeigt, dass Chinas Einfluss auf Russland möglicherweise überschätzt wird. Peking wird das in der Frage der russischen Aggression nicht auf Distanz zu Moskau bringen, aber die Chancen auf eine Verlängerung des Abkommens verbessern.

Der Marktbeobachter konstatiert erneut große Unsicherheiten auf den nationalen und internationalen Märkten. Noch sind die Hoffnungen auf einen neuen Deal nicht unrealistisch. An den Börsen in Chicago und Paris steigt der Getreidepreis, aber noch verhalten und nicht sprunghaft. Zu viele Interessen sind im Spiel, aber der Krieg hat seine eigenen Gesetze. Für die deutschen Landwirte beginnen wieder die Turbulenzen. Ackerbauern stellen sich die Frage: verkaufen oder auf bessere Preise warten. Immerhin ist ihre Ernte nicht schlecht (Gerste gut, Weizen und Raps fraglich), aber EU-weit läuft es wohl auf niedrige Erträge hinaus. Daher spricht einiges (mit und erst recht ohne Ukraine- Abkommen) für Preisanstieg. Dem heimischen Schweinehalter, der gerade erst aus den roten Zahlen heraus ist, droht neues Ungemach. Die Milchbäuerinnen und -bauern fürchten um teures Futter bei sinkenden Preisen. Und beim Verbraucher werden die Nahrungsmittelpreise die Inflation treiben.

26.07.2023
Von: Hugo Gödde

Der zentrale Weg für den Export ukrainischen Getreides führt über Häfen in der Schwarzmeer-Region. Foto: Kernel