Ökostrom eilt von Rekord zu Rekord – Jahrhundertchance für den ländlichen Raum (ohne Biogas?)

Marktbeobachtungen von Hugo Gödde +++ Die Transformation des Energiesektors läuft auf vollen Touren. Der Anteil des erneuerbaren Stroms lag im ersten Halbjahr 2024 bei 65% der öffentlichen Nettostromerzeugung – nicht eingerechnet der Eigenverbrauch der Industrie. Das teilte das Fraunhofer Institut für solare Energiesysteme (ISE) letzte Woche mit. Mit 140 Terawattstunden (TWh) wurde ein neuer Rekord erreicht. Mehr als die Hälfte davon wurde von der Windenergie produziert, gegenüber dem letzten Jahr wurde die Menge um 10% erhöht. Damit deckte die Windkraft rund ein Drittel der gesamten Stromerzeugung. 81% wurden an Land erzeugt und 19% off-shore.

15% legte die Photovoltaik zu. Mit 32,4 TWh liegt sie auf dem zweiten Rang vor der Biomasse mit 20,8 TWh. Die Stromerzeugung aus Wasserkraft folgt mit 11,3 TWh, verzeichnete aber das größte Wachstum mit 27%.

Zubau bei PV-Anlagen und Spitzengebote bei Windenergie

Auch beim Zubau von PV-Anlagen werden gute Werte erzielt. Für 2024 wird ein Wachstum von 15% erwartet. Sehr schwach läuft aktuell der Windkraft-Zubau. Aber bei der Ausschreibung für Windenergieanlagen zum 1. Mai ist die eingereichte Gebotsmenge rekordverdächtig. Laut Netzagentur-Chef Klaus Müller seien die Ziele bei Wind an Land erreichbar. Problematisch ist eher die regionale Verteilung, denn der größte Teil entfiel auf den Norden (NRW, Niederachsen und Schleswig Holstein), wo bereits eine hohe Erzeugung, aber nicht der höchste Verbrauch stattfindet.

Übrigens ist die Produktion aus fossilen Energieträgern weiter gesunken, seit 2015 um 46%, während aus erneuerbaren Quellen 56% mehr erzeugt wurde.

Chance für den ländlichen Raum

Eine „Jahrhundertchance für den ländlichen Raum“ nennt der Geschäftsführer des Bundesverbandes der gemeinnützigen Landgesellschaften (BLG), Udo Hemmerling, in einem Interview mit AGRA Europe die Energiewende. Man müsse die Möglichkeiten erkennen und dürfe nicht „bei der Kritik an Wärmepumpen-Zwang oder Überregulierung stehen bleiben, so berechtigt sie auch sein mag.“ Nicht nur die Energiewirtschaft siedele sich im ländlichen Raum an, womit Wertschöpfung und Arbeitsplätze entstehen, sondern auch neue Industrien wie Batteriewerke oder Rechenzentren, die auf Ökostrom aufbauen. Der „neue“ Strom muss nicht zwangsläufig von Nord nach Süd transportiert werden, sondern kann auch vor Ort verbraucht werden.

Auch für die landwirtschaftlichen Betriebe biete die Energieerzeugung einen neuen Betriebs- und Einkommenszweig. Hemmerling: „Jeder vierte Betrieb hat heute ein wirtschaftliches Standbein in den erneuerbaren Energien, von Biogas bis PV. Der nächste Schritt wird mit der Speicherung des PV-Stroms kommen.“ Die Einbindung in die Landwirtschaft stehe an, schließlich sei der Eigenverbrauch interessanter als die Einspeisung ins Netz. Der Vorsitzende der BLG, Christopher Toben ergänzt: „Wir stehen am Anfang eines Transformationsprozesses und wissen noch nicht, wie viel für die ländlichen Räume dabei ‚herausspringt‘. Aber es ist eine große Chance und wir sind auf dem richtigen Weg.“ Er fordert vor allem einen Perspektivenwechsel, denn „Transformation“ stoße bei vielen auf Ablehnung.

Biogas auf Ausstiegspfad

Aber manches läuft nicht rund bei der Energiewende. Besonders verärgert sind die Biogas-Erzeuger. Nur ein Drittel Biogasbauern kommt bei Ausschreibungen zum Zuge. Viele wollen daher ihre Anlagen bald stilllegen und keine Wärme mehr liefern. Der Fachverband Biogas warnt, dass manche Schulen, Kindergärten oder Schwimmbäder bald geschlossen werden müssten, weil die Landwirte nicht wissen, ob sie nach dem Ende ihrer Vergütungszeit ihre Biogasanlage noch weiter betreiben können. Viele Anlagen beliefern Wärmekunden, wodurch sich erst die Anlage rentiere. Für 25% der Anlagenbetreiber bedeutet das Ende der EEG-Vergütungszeit auch das Ende der Wärmenutzung. Nur weniger als 10% könnten ihre Wärmeversorgung aufrechterhalten, so der Fachverband. Präsident Horst Seide ist sich sicher: „Wir können es uns nicht leisten, auf dieses Potenzial zu verzichten.“ Viele Orte in ganz Deutschland hätten bei der vorgeschriebenen kommunalen Wärmeplanung auf Biogasanlagen gesetzt. Eine Wärmewende sei so nicht zu erreichen. Er verlangt eine verlässliche Perspektive für die Branche.

Erheblichen Protest hat in der Branche die Kraftwerksstrategie der Regierung ausgelöst, bei der Biogas keine Rolle mehr spielt. Stattdessen wird auf Erdgaskraftwerke und Wasserstoff aus Erdgas gesetzt. Im Rahmen des Wachstumspakets werden u.a. neue Gaskraftwerke ausgeschrieben, die insbesondere in Dunkelflauten einen Beitrag zur Versorgungssicherheit leisten sollen. Sie werden als „Brückentechnologie“ bis zur umfassenden, technologieoffenen Energiewende genutzt. Flexible Biogasanlagen, die ins Netz einspeisen, wenn Sonne und Wind nicht zur Verfügung stehen, werden ausgeklammert.

Nicht zuletzt häufen sich die Beschwerden von innovativen Anlagenbetreibern über die wuchernde Bürokratie bei der Genehmigung, Dokumentation, Meldepflichten usw. Von einer „Deutschlandgeschwindigkeit“ wie bei den LNG-Terminals sei man meilenweit entfernt. Das bremse die Energiewende mehr aus als fehlendes Geld, schwache Stromleitungen, Lieferengpässe oder Fachkräftemangel, urteilen Energieexperten.

Der Marktbeobachter erkennt bei aller berechtigter Kritik im Einzelnen – aus der Biogasbranche oder an der Überregulierung – den großen Fortschritt bei der Energiewende an. Wenn man bedenkt, von welcher Ausgangssituation die Energieversorgung in Deutschland im letzten Jahrhundert gekommen ist, dass vier Konzerne („Viererbande“ mit riesigen Kraftwerksböcken) den gesamten Markt bestimmt haben, sind wir heute fast auf einem dezentralen, „demokratischen“ Weg vieltausendfacher Eigentümer. Gerade auch der ländliche Raum kann davon partizipieren und sich ein wenig vom Image des Abgehängtseins und Nichtgehörtwerdens lösen. Transformationen oder Wenden aller Art (Agrar-, Energie-, Mobilitätswende u.a.) sind auf dem Lande kein Gewinnerthema. Oft drängt sich vielen Bewohnern – zu Recht - der Eindruck auf, dass dem Land der Lebensstil der Stadt übergestülpt werden soll, wogegen man alle Abwehrkräfte mobilisieren müsse. Die Energiewende könnte einen Perspektivenwechsel gegen die Negativstimmung und das „Jammern“ bieten, wenn man die „Jahrhundertchance“ knallhart für die ländliche ökonomische Entwicklung nutzt.