IPES-Food: Lebensmittelpreis- und Hungerkrise wäre vermeidbar

Dass die Lebensmittelpreise infolge des Ukrainekriegs in exorbitante Höhen schnellten und das Gespenst des Hungers umgeht, wäre durch eine längst überfällige Reform der Ernährungssysteme verhinderbar gewesen, beklagen führende Agrar- und Ernährungsexpert*innen. Laut einem am 6. Mai veröffentlichten Bericht des internationalen Expertengremiums IPES-Food hat das Ausbleiben dieser Reform dazu geführt, dass sich der Ukraine-Konflikt „zu einer ausgewachsenen globalen Lebensmittelpreiskrise und einer großen Bedrohung für die Ernährungssicherheit von Millionen von Menschen entwickeln“ konnte. Die Preis- und Hungerkrise hat es mittlerweile auch auf die Titelseiten der Zeitungen geschafft: Die globalen Lebensmittelpreise sind um ein Drittel höher als im Vorjahr. Im Sudan verdoppelten sich die Brotpreise seit Kriegsausbruch, im Libanon stiegen sie um satte 70%. Die Kosten für den Import von Weizen erhöhten sich um ein Drittel zu. Die Armen in Ländern mit geringem Einkommen müssen einen Großteil ihres Verdienstes für Lebensmittel aufbringen, viele können sich nicht mehr ausreichend Nahrung leisten. Nach Ansicht von IPES-Food, dem auch mehrere einst am Weltagrarbericht beteiligte Wissenschaftler*innen angehören, hätte diese erneute Preiskrise verhindert werden können, doch grundlegende Fehler im globalen Ernährungssystem, wie eine starke Importabhängigkeit oder die übermäßige Spekulation mit Rohstoffen, haben bewirkt, dass der Krieg nun die dritte globale Lebensmittelpreiskrise innerhalb von 15 Jahren auslöste.

„Eine neue Generation sieht sich erneut mit einer zunehmenden Ernährungsunsicherheit konfrontiert und es scheint, dass aus der letzten Lebensmittelpreiskrise keine Lehren gezogen wurden“, beklagt Olivier De Schutter, Ko-Vorsitzender von IPES-Food und UN-Sonderberichterstatter für extreme Armut und Menschenrechte. „Wenn man sich bei der weltweiten Lebensmittelversorgung weiterhin auf eine Handvoll Agrarrohstoffe und Länder verlässt, ist das in Kombination mit räuberischen Finanziers, die auf Nahrungsmittel wetten, ein Rezept für eine Katastrophe“, so De Schutter. Der Food Price Index der Welternährungsorganisation FAO hatte bereits im Januar 2022 einen Stand erreicht, der den Höchststand der Lebensmittelpreiskrise von 2008 übertraf. „Vor diesem Hintergrund war es unvermeidlich, dass ein Versorgungsschock, der zwei der wichtigsten Getreideexportländer der Welt betrifft, die globalen Märkte in gewissem Maße destabilisieren würde“, heißt es im IPES-Food-Bericht. So beziehen etwa 26 Länder mehr als 50% ihrer Weizenimporte aus der Ukraine und Russland. Im Fall von Eritrea, Somalia und der Demokratischen Republik Kongo sind es sogar 80 bis 100%. Die Autor*innen bezweifeln jedoch, dass die derzeitige Krise ein unvermeidliches Resultat dieses Krieges gewesen wäre – die Probleme und Schwächen der globalen Ernährungssysteme hätten die Folgen des Kriegs für die Ernährungssicherheit lediglich verstärkt. „Die weltweite Ernährungssicherheit ist auf einem Kartenhaus aufgebaut – der ganze Turm kann einstürzen, wenn eine Karte fällt“, schreibt Jennifer Clapp, stellvertretende Vorsitzende von IPES-Food und eine der Hauptautor*innen des Berichts, in einem Gastbeitrag für Civil Eats. „Die Konzentration im globalen Lebensmittelsystem schafft Schwachstellen, die kaskadenartige Folgen haben können, wenn irgendein Teil des Systems zusammenbricht. Diese Größenvorteile mögen auf gewinnbringende Effizienz ausgelegt sein, wenn alles nach Plan läuft. Aber sie sind weder stabil noch widerstandsfähig noch verlässlich, wenn Risiken auftreten, vor allem nicht für verletzliche Menschen.“

Die Expert*innen analysieren vier strukturelle Schwachstellen, die die Lebensmittelsysteme anfällig für Preisschocks machen. Das erste Problem ist die Importabhängigkeit vieler Länder. Die Vielfalt unserer Ernährung nimmt seit Jahrzehnten ab. Bereits 1995 machten Weizen, Reis und Mais – nur drei der 7.000 vom Menschen verzehrten Pflanzen – über 50 % der weltweit aufgenommenen pflanzlichen Energiezufuhr aus. „In vielen Ländern haben Cash Crops den vielfältigeren Anbau von Nahrungsmitteln und ernährungsphysiologisch wichtigen Nahrungsmitteln verdrängt“, heißt es im Bericht. So habe der Tabakanbau in Bangladesch Gemüse und Hülsenfrüchte verdrängt, ebenso wie Maniok, Hirse und Süßkartoffeln in einer Reihe von afrikanischen Ländern. Während die meisten Länder weiterhin Grundnahrungsmittel für sich anbauen, produzierten viele nicht genug, um ihren Bedarf zu decken und sind stark von Importen abhängig geworden, betonen die Autor*innen. Einige Länder seien inzwischen zu 100% von Grundnahrungsmittelimporten abhängig und gleichzeitig hoch verschuldet. Die Länder, die Nahrungsmittel importieren, sind zudem auf eine geringe Zahl an Getreideexporteuren angewiesen. Auf nur sieben Länder plus die EU entfallen 90% der weltweiten Weizenexporte und gerade einmal vier Länder exportieren 80% der weltweiten Maismenge. Der globale Handel mit Grundnahrungsmitteln wird von einer Handvoll Länder und Konzerne dominiert. So wird etwa 70-90% des gesamten Getreidehandels von 4 Firmen kontrolliert: Archer-Daniels Midland, Bunge, Cargill und Dreyfus. Dies führe zu erheblichen Störungen, wenn ein großer Exporteur ausfalle.

Zweitens stellt der Bericht fest, dass eine Reihe von Hürden Landwirt*innen daran hindern, ihre Produktion umzustellen und zu diversifizieren, wenn die Instabilität der Weltmärkte und die Welternährungslage es erfordert. Zu den Hürden gehören die Überspezialisierung in bestimmten Regionen, die Präferenzen von Händlern und Regierungen für Cash Crops und Biokraftstoffe sowie die Abhängigkeit von synthetischen Düngemitteln. So haben sich z.B. Regionen wie der US-Maisgürtel oder der argentinische Sojagürtel stark auf bestimmte Agrarrohstoffe spezialisiert. Da gehäuft in diese Kulturen investiert wird, entstünden „Pfadabhängigkeiten“. Rohstoffspezifische Fertigkeiten, Schulungen, Ausrüstungen, Netzwerke und Beziehungen zum Handel sind kostspielig im Aufbau und wären teils nicht mehr relevant beim Umstieg auf andere Kulturen oder Produktionsmethoden.

Drittens stellen Marktversagen und Spekulation zusätzliche Probleme dar. Laut IPES-Food gibt es Hinweise darauf, dass auch Finanzspekulant*innen den Anstieg und die Volatilität der Lebensmittelpreise verschärfen könnten. „In nur 9 Tagen im März 2022 stieg der Weizenpreis an den Terminmärkten um 54%. Und das, obwohl die weltweiten Weizenvorräte verglichen mit bisherigen Trends hoch sind. Die weltweiten Weizen- und Maisvorräte nahmen seit 2012 stetig zu. Das Verhältnis der Vorräte zum Verbrauch ist 2022 beim Getreide mit 29,7% angemessen und liegt nur geringfügig unter dem Wert von 2020/21, was auf ein relativ komfortables Versorgungsniveau hindeutet.“ Zudem sei seit Beginn der Ukraine-Invasion verstärkt in Rohstoff-Futures und rohstoffgebundene Fonds investiert worden. Der tägliche Handel mit einem solchen Fonds stieg von Januar bis Anfang März auf das 100-fache an. Das Handelsvolumen an der Chicago Mercantile Exchange und der Anteil der Spekulanten an den Weizen- und Maismärkten nahmen zu. „Der Preisanstieg in den vergangenen Wochen beruht zu großen Teilen auf Spekulation am Weltmarkt“, sagte Hans Herren, Mitglied von IPES-Food und einst Ko-Präsident des Weltagrarberichts. „So wird ein künstlicher Mangel kreiert und es werden riesige Mengen an Getreide zurückgehalten in der Hoffnung, dass der Preis steigt und man später teurer verkaufen kann. Ich finde es unglaublich, dass man mit Ernährung spekulieren darf.“

Die vierte strukturelle Schwäche, die der Bericht nennt, ist der Teufelskreis aus Konflikten, Klimawandel, Armut und Ernährungsunsicherheit, der dazu führt, dass Hunderte Millionen Menschen nicht in der Lage sind, sich bei plötzlichen Schocks anzupassen. Die derzeitige Krise hat gezeigt, dass diese Menschen nicht über das Einkommen oder die Mittel verfügen, um mit steigenden Lebensmittelpreisen oder den Folgen des Klimawandels fertig zu werden. „In mehreren Ländern des globalen Südens mit einer großen Landbevölkerung leben mehr als 50% der Bauern und Landarbeiter*innen unterhalb der Armutsgrenze. Die ärmsten Menschen in Ländern mit niedrigem Einkommen geben mehr als 60% ihres Einkommens für Lebensmittel aus, so dass selbst geringe Preissteigerungen verheerende Auswirkungen haben können – Schwachstellen, die durch die COVID-19-Pandemie auf grausame Weise offengelegt wurden“, heißt es in dem Bericht.

Das Expertengremium warnt vor kurzsichtigen Reaktionen auf die Krise, die die aktuellen Trends noch verschärfen, wie etwa die Aussetzung von Umweltvorschriften, die Steigerung der industriellen Nahrungsmittelproduktion oder die weitere Förderung einer exportorientierten, düngerbasierten Landwirtschaft. Stattdessen fordert IPES-Food dringende Maßnahmen zur Unterstützung der nahrungsmittelimportierenden Länder, unter anderem durch Schuldenerlass. Der Bericht hebt hervor, dass Maßnahmen, die die Fähigkeit der Länder zum Aufbau und zur Aufrechterhaltung von sozialen Sicherungssystemen verbessern, den größten und nachhaltigsten Nutzen bringen. Das war auch schon nach der Lebensmittelpreiskrise 2007-2008 bekannt. Die Einrichtung eines neuen Finanzierungsmechanismus in Form eines Globalen Fonds für Sozialschutz würde ärmere Länder in die Lage versetzen, soziale Sicherungssysteme zu schaffen, so die Autor*innen. Letztendlich ist ein Schuldenerlass bzw. eine Streichung der Schulden unabdingbar, damit einkommensschwache Länder, die Nettoimporteure von Nahrungsmitteln sind, die steigenden Importrechnungen bezahlen und soziale Sicherungssysteme einrichten können. „Jahrzehntelang haben reiche Regierungen und Institutionen wie der Internationale Währungsfonds und die Weltbank einkommensschwache Länder dazu gedrängt, Pflanzen für den Export in reiche Länder anzubauen und Grundnahrungsmittel wie Weizen und Mais zu importieren, um sich selbst zu ernähren“, so Raj Patel, Mitglied von IPES-Food und Professor an der University of Texas. „Jetzt sind Millionen von Menschen immer wiederkehrenden Lebensmittelpreisschocks ausgesetzt, die Länder sind verschuldet, und die Zinsen steigen. Ein Schuldenerlass für Länder, die von Nahrungsmittelimporten abhängig sind, ist unerlässlich, um Unruhen im eigenen Land zu verhindern, gefährdete Bevölkerungsgruppen zu schützen und die Nahrungsmittelproduktion wieder aufzubauen und zu diversifizieren“, forderte er.

Eine weitere Empfehlung lautet, die übermäßige Spekulation mit Rohstoffen einzudämmen und die Markttransparenz zu erhöhen. „Es gibt Hinweise darauf, dass sich Finanzspekulanten auf Rohstoffinvestitionen stürzen und auf steigende Lebensmittelpreise setzen, was die ärmsten Menschen der Welt noch tiefer in den Hunger treibt“, bestätigt Jennifer Clapp. „Die Regierungen haben es versäumt, exzessive Spekulationen einzudämmen und bei den Nahrungsmittelbeständen und Rohstoffmärkten Transparenz zu schaffen – das muss dringend geändert werden.“ Darüber hinaus raten die Expert*innen den Regierungen, regionale Getreidereserven und Reaktionssysteme für Ernährungssicherheit aufzubauen. „Es ist alarmierend zu sehen, dass die Preise steigen und in vielen Ländern Afrikas wieder Hunger und Lebensmittelunruhen drohen. Der Wiederaufbau regionaler staatlicher Getreidereserven ist der Schlüssel zur Widerstandsfähigkeit bei derartigen Schocks – Westafrika hat einige Fortschritte gemacht, aber es ist ein Weckruf und alle Regionen brauchen Unterstützung, um dies zu beschleunigen“, sagte Mamadou Goïta von IPES-Food und geschäftsführender Direktor von IRPAD Afrique.

Darüber hinaus empfehlen die Autor*innen, Schritte zur Diversifizierung der Nahrungsmittelproduktion und zur Umstrukturierung der Handelsströme zu beschleunigen. Schritte zum Wiederaufbau der heimischen Nahrungsmittelproduktion in den kommenden Monaten und Jahren könnten dazu beitragen, Preisspitzen abzufedern und den Zugang zu Grundnahrungsmitteln zu gewährleisten. „Länder brauchen kontextspezifische Ansätze, die es ihnen ermöglichen, bei den wichtigsten Grundnahrungsmitteln einen gewissen Grad an Selbstversorgung wiederherzustellen, auf widerstandsfähigere traditionelle Kulturen (z. B. Hirse statt Reis) umzusteigen und gleichzeitig den Lebensmittelkonsum zu diversifizieren sowie eine vielfältigere Mischung aus lokalen und globalen Lieferungen sicherzustellen“, heißt es im Bericht. Schließlich weist IPES-Food auf die Notwendigkeit hin, die Abhängigkeit von Düngemitteln und fossiler Energie in der Lebensmittelproduktion durch Vielfalt und Agrarökologie zu verringern. „Agrarökologie ist eine Form der Krisenbewältigung, ein Weg zur Resilienz und eine kostengünstige Möglichkeit, sich gegen verschiedene Schocks abzusichern.“

Dass die Lebensmittelpreise infolge des Ukrainekriegs in exorbitante Höhen schnellten und das Gespenst des Hungers umgeht, wäre durch eine längst überfällige Reform der Ernährungssysteme verhinderbar gewesen, beklagen führende Agrar- und Ernährungsexpert*innen. Laut einem am 6. Mai veröffentlichten Bericht des internationalen Expertengremiums IPES-Food hat das Ausbleiben dieser Reform dazu geführt, dass sich der Ukraine-Konflikt „zu einer ausgewachsenen globalen Lebensmittelpreiskrise und einer großen Bedrohung für die Ernährungssicherheit von Millionen von Menschen entwickeln“ konnte. Die Preis- und Hungerkrise hat es mittlerweile auch auf die Titelseiten der Zeitungen geschafft: Die globalen Lebensmittelpreise sind um ein Drittel höher als im Vorjahr. Im Sudan verdoppelten sich die Brotpreise seit Kriegsausbruch, im Libanon stiegen sie um satte 70%. Die Kosten für den Import von Weizen erhöhten sich um ein Drittel zu. Die Armen in Ländern mit geringem Einkommen müssen einen Großteil ihres Verdienstes für Lebensmittel aufbringen, viele können sich nicht mehr ausreichend Nahrung leisten. Nach Ansicht von IPES-Food, dem auch mehrere einst am Weltagrarbericht beteiligte Wissenschaftler*innen angehören, hätte diese erneute Preiskrise verhindert werden können, doch grundlegende Fehler im globalen Ernährungssystem, wie eine starke Importabhängigkeit oder die übermäßige Spekulation mit Rohstoffen, haben bewirkt, dass der Krieg nun die dritte globale Lebensmittelpreiskrise innerhalb von 15 Jahren auslöste.

„Eine neue Generation sieht sich erneut mit einer zunehmenden Ernährungsunsicherheit konfrontiert und es scheint, dass aus der letzten Lebensmittelpreiskrise keine Lehren gezogen wurden“, beklagt Olivier De Schutter, Ko-Vorsitzender von IPES-Food und UN-Sonderberichterstatter für extreme Armut und Menschenrechte. „Wenn man sich bei der weltweiten Lebensmittelversorgung weiterhin auf eine Handvoll Agrarrohstoffe und Länder verlässt, ist das in Kombination mit räuberischen Finanziers, die auf Nahrungsmittel wetten, ein Rezept für eine Katastrophe“, so De Schutter. Der Food Price Index der Welternährungsorganisation FAO hatte bereits im Januar 2022 einen Stand erreicht, der den Höchststand der Lebensmittelpreiskrise von 2008 übertraf. „Vor diesem Hintergrund war es unvermeidlich, dass ein Versorgungsschock, der zwei der wichtigsten Getreideexportländer der Welt betrifft, die globalen Märkte in gewissem Maße destabilisieren würde“, heißt es im IPES-Food-Bericht. So beziehen etwa 26 Länder mehr als 50% ihrer Weizenimporte aus der Ukraine und Russland. Im Fall von Eritrea, Somalia und der Demokratischen Republik Kongo sind es sogar 80 bis 100%. Die Autor*innen bezweifeln jedoch, dass die derzeitige Krise ein unvermeidliches Resultat dieses Krieges gewesen wäre – die Probleme und Schwächen der globalen Ernährungssysteme hätten die Folgen des Kriegs für die Ernährungssicherheit lediglich verstärkt. „Die weltweite Ernährungssicherheit ist auf einem Kartenhaus aufgebaut – der ganze Turm kann einstürzen, wenn eine Karte fällt“, schreibt Jennifer Clapp, stellvertretende Vorsitzende von IPES-Food und eine der Hauptautor*innen des Berichts, in einem Gastbeitrag für Civil Eats. „Die Konzentration im globalen Lebensmittelsystem schafft Schwachstellen, die kaskadenartige Folgen haben können, wenn irgendein Teil des Systems zusammenbricht. Diese Größenvorteile mögen auf gewinnbringende Effizienz ausgelegt sein, wenn alles nach Plan läuft. Aber sie sind weder stabil noch widerstandsfähig noch verlässlich, wenn Risiken auftreten, vor allem nicht für verletzliche Menschen.“

Die Expert*innen analysieren vier strukturelle Schwachstellen, die die Lebensmittelsysteme anfällig für Preisschocks machen. Das erste Problem ist die Importabhängigkeit vieler Länder. Die Vielfalt unserer Ernährung nimmt seit Jahrzehnten ab. Bereits 1995 machten Weizen, Reis und Mais – nur drei der 7.000 vom Menschen verzehrten Pflanzen – über 50 % der weltweit aufgenommenen pflanzlichen Energiezufuhr aus. „In vielen Ländern haben Cash Crops den vielfältigeren Anbau von Nahrungsmitteln und ernährungsphysiologisch wichtigen Nahrungsmitteln verdrängt“, heißt es im Bericht. So habe der Tabakanbau in Bangladesch Gemüse und Hülsenfrüchte verdrängt, ebenso wie Maniok, Hirse und Süßkartoffeln in einer Reihe von afrikanischen Ländern. Während die meisten Länder weiterhin Grundnahrungsmittel für sich anbauen, produzierten viele nicht genug, um ihren Bedarf zu decken und sind stark von Importen abhängig geworden, betonen die Autor*innen. Einige Länder seien inzwischen zu 100% von Grundnahrungsmittelimporten abhängig und gleichzeitig hoch verschuldet. Die Länder, die Nahrungsmittel importieren, sind zudem auf eine geringe Zahl an Getreideexporteuren angewiesen. Auf nur sieben Länder plus die EU entfallen 90% der weltweiten Weizenexporte und gerade einmal vier Länder exportieren 80% der weltweiten Maismenge. Der globale Handel mit Grundnahrungsmitteln wird von einer Handvoll Länder und Konzerne dominiert. So wird etwa 70-90% des gesamten Getreidehandels von 4 Firmen kontrolliert: Archer-Daniels Midland, Bunge, Cargill und Dreyfus. Dies führe zu erheblichen Störungen, wenn ein großer Exporteur ausfalle.

Zweitens stellt der Bericht fest, dass eine Reihe von Hürden Landwirt*innen daran hindern, ihre Produktion umzustellen und zu diversifizieren, wenn die Instabilität der Weltmärkte und die Welternährungslage es erfordert. Zu den Hürden gehören die Überspezialisierung in bestimmten Regionen, die Präferenzen von Händlern und Regierungen für Cash Crops und Biokraftstoffe sowie die Abhängigkeit von synthetischen Düngemitteln. So haben sich z.B. Regionen wie der US-Maisgürtel oder der argentinische Sojagürtel stark auf bestimmte Agrarrohstoffe spezialisiert. Da gehäuft in diese Kulturen investiert wird, entstünden „Pfadabhängigkeiten“. Rohstoffspezifische Fertigkeiten, Schulungen, Ausrüstungen, Netzwerke und Beziehungen zum Handel sind kostspielig im Aufbau und wären teils nicht mehr relevant beim Umstieg auf andere Kulturen oder Produktionsmethoden.

Drittens stellen Marktversagen und Spekulation zusätzliche Probleme dar. Laut IPES-Food gibt es Hinweise darauf, dass auch Finanzspekulant*innen den Anstieg und die Volatilität der Lebensmittelpreise verschärfen könnten. „In nur 9 Tagen im März 2022 stieg der Weizenpreis an den Terminmärkten um 54%. Und das, obwohl die weltweiten Weizenvorräte verglichen mit bisherigen Trends hoch sind. Die weltweiten Weizen- und Maisvorräte nahmen seit 2012 stetig zu. Das Verhältnis der Vorräte zum Verbrauch ist 2022 beim Getreide mit 29,7% angemessen und liegt nur geringfügig unter dem Wert von 2020/21, was auf ein relativ komfortables Versorgungsniveau hindeutet.“ Zudem sei seit Beginn der Ukraine-Invasion verstärkt in Rohstoff-Futures und rohstoffgebundene Fonds investiert worden. Der tägliche Handel mit einem solchen Fonds stieg von Januar bis Anfang März auf das 100-fache an. Das Handelsvolumen an der Chicago Mercantile Exchange und der Anteil der Spekulanten an den Weizen- und Maismärkten nahmen zu. „Der Preisanstieg in den vergangenen Wochen beruht zu großen Teilen auf Spekulation am Weltmarkt“, sagte Hans Herren, Mitglied von IPES-Food und einst Ko-Präsident des Weltagrarberichts. „So wird ein künstlicher Mangel kreiert und es werden riesige Mengen an Getreide zurückgehalten in der Hoffnung, dass der Preis steigt und man später teurer verkaufen kann. Ich finde es unglaublich, dass man mit Ernährung spekulieren darf.“

Die vierte strukturelle Schwäche, die der Bericht nennt, ist der Teufelskreis aus Konflikten, Klimawandel, Armut und Ernährungsunsicherheit, der dazu führt, dass Hunderte Millionen Menschen nicht in der Lage sind, sich bei plötzlichen Schocks anzupassen. Die derzeitige Krise hat gezeigt, dass diese Menschen nicht über das Einkommen oder die Mittel verfügen, um mit steigenden Lebensmittelpreisen oder den Folgen des Klimawandels fertig zu werden. „In mehreren Ländern des globalen Südens mit einer großen Landbevölkerung leben mehr als 50% der Bauern und Landarbeiter*innen unterhalb der Armutsgrenze. Die ärmsten Menschen in Ländern mit niedrigem Einkommen geben mehr als 60% ihres Einkommens für Lebensmittel aus, so dass selbst geringe Preissteigerungen verheerende Auswirkungen haben können – Schwachstellen, die durch die COVID-19-Pandemie auf grausame Weise offengelegt wurden“, heißt es in dem Bericht.

Das Expertengremium warnt vor kurzsichtigen Reaktionen auf die Krise, die die aktuellen Trends noch verschärfen, wie etwa die Aussetzung von Umweltvorschriften, die Steigerung der industriellen Nahrungsmittelproduktion oder die weitere Förderung einer exportorientierten, düngerbasierten Landwirtschaft. Stattdessen fordert IPES-Food dringende Maßnahmen zur Unterstützung der nahrungsmittelimportierenden Länder, unter anderem durch Schuldenerlass. Der Bericht hebt hervor, dass Maßnahmen, die die Fähigkeit der Länder zum Aufbau und zur Aufrechterhaltung von sozialen Sicherungssystemen verbessern, den größten und nachhaltigsten Nutzen bringen. Das war auch schon nach der Lebensmittelpreiskrise 2007-2008 bekannt. Die Einrichtung eines neuen Finanzierungsmechanismus in Form eines Globalen Fonds für Sozialschutz würde ärmere Länder in die Lage versetzen, soziale Sicherungssysteme zu schaffen, so die Autor*innen. Letztendlich ist ein Schuldenerlass bzw. eine Streichung der Schulden unabdingbar, damit einkommensschwache Länder, die Nettoimporteure von Nahrungsmitteln sind, die steigenden Importrechnungen bezahlen und soziale Sicherungssysteme einrichten können. „Jahrzehntelang haben reiche Regierungen und Institutionen wie der Internationale Währungsfonds und die Weltbank einkommensschwache Länder dazu gedrängt, Pflanzen für den Export in reiche Länder anzubauen und Grundnahrungsmittel wie Weizen und Mais zu importieren, um sich selbst zu ernähren“, so Raj Patel, Mitglied von IPES-Food und Professor an der University of Texas. „Jetzt sind Millionen von Menschen immer wiederkehrenden Lebensmittelpreisschocks ausgesetzt, die Länder sind verschuldet, und die Zinsen steigen. Ein Schuldenerlass für Länder, die von Nahrungsmittelimporten abhängig sind, ist unerlässlich, um Unruhen im eigenen Land zu verhindern, gefährdete Bevölkerungsgruppen zu schützen und die Nahrungsmittelproduktion wieder aufzubauen und zu diversifizieren“, forderte er.

Eine weitere Empfehlung lautet, die übermäßige Spekulation mit Rohstoffen einzudämmen und die Markttransparenz zu erhöhen. „Es gibt Hinweise darauf, dass sich Finanzspekulanten auf Rohstoffinvestitionen stürzen und auf steigende Lebensmittelpreise setzen, was die ärmsten Menschen der Welt noch tiefer in den Hunger treibt“, bestätigt Jennifer Clapp. „Die Regierungen haben es versäumt, exzessive Spekulationen einzudämmen und bei den Nahrungsmittelbeständen und Rohstoffmärkten Transparenz zu schaffen – das muss dringend geändert werden.“ Darüber hinaus raten die Expert*innen den Regierungen, regionale Getreidereserven und Reaktionssysteme für Ernährungssicherheit aufzubauen. „Es ist alarmierend zu sehen, dass die Preise steigen und in vielen Ländern Afrikas wieder Hunger und Lebensmittelunruhen drohen. Der Wiederaufbau regionaler staatlicher Getreidereserven ist der Schlüssel zur Widerstandsfähigkeit bei derartigen Schocks – Westafrika hat einige Fortschritte gemacht, aber es ist ein Weckruf und alle Regionen brauchen Unterstützung, um dies zu beschleunigen“, sagte Mamadou Goïta von IPES-Food und geschäftsführender Direktor von IRPAD Afrique.

Darüber hinaus empfehlen die Autor*innen, Schritte zur Diversifizierung der Nahrungsmittelproduktion und zur Umstrukturierung der Handelsströme zu beschleunigen. Schritte zum Wiederaufbau der heimischen Nahrungsmittelproduktion in den kommenden Monaten und Jahren könnten dazu beitragen, Preisspitzen abzufedern und den Zugang zu Grundnahrungsmitteln zu gewährleisten. „Länder brauchen kontextspezifische Ansätze, die es ihnen ermöglichen, bei den wichtigsten Grundnahrungsmitteln einen gewissen Grad an Selbstversorgung wiederherzustellen, auf widerstandsfähigere traditionelle Kulturen (z. B. Hirse statt Reis) umzusteigen und gleichzeitig den Lebensmittelkonsum zu diversifizieren sowie eine vielfältigere Mischung aus lokalen und globalen Lieferungen sicherzustellen“, heißt es im Bericht. Schließlich weist IPES-Food auf die Notwendigkeit hin, die Abhängigkeit von Düngemitteln und fossiler Energie in der Lebensmittelproduktion durch Vielfalt und Agrarökologie zu verringern. „Agrarökologie ist eine Form der Krisenbewältigung, ein Weg zur Resilienz und eine kostengünstige Möglichkeit, sich gegen verschiedene Schocks abzusichern.“

Eine Meldung von weltagrarbericht.de