Angesichts des Angriffs Russlands auf die Ukraine fordern zahlreiche Wissenschaftler:innen in einem offenen Brief an die Bundesregierung diese dazu auf, dieTransformation des Ernährungssystems aktiv zu beschleunigen. Der Ukraine-Krieg führt zu steigenden Preisen von Lebensmitteln, Agrarrohstoffen und landwirtschaftlichen Produktionsmitteln (v.a. von Getreide, Ölsaaten, Futter- und Düngemitteln sowie Agrardiesel). In zahlreichen Ländern des Globalen Südens drohe deshalb eine Zunahme der Ernährungsunsicherheit und von damit einhergehender Unter- und Mangelernährung. Diese Entwicklungen verschärfen nach Ansicht der Wissenschaftler:innen auch in Deutschland und der EU soziale Ungleichheiten in der Ernährung. „Im Einklang mit dem aktuellen Aufruf von mehr als 600 Wissenschaftler*innen, sehen wir vor allem die Reduktion des Fleischverzehrs, der Lebensmittelabfälle und der Nutzung von Bioethanol als essentielle Chance, trotz des Ukraine-Krieges eine Zunahme von Mangel- und Unterernährung zu verhindern. Zeitgleich kann dies Klimaschutz, Artenvielfalt, langfristige Ernährungssicherheit und damit Gesundheit, wirtschaftliche Stabilität und Frieden fördern. Der aktuelle Krieg in der Ukraine erhöht somit nicht nur den politischen Handlungsdruck, sondern öffnet auch neue Handlungsoptionen für eine strategische Neuausrichtung der Agrar- und Ernährungspolitik“, heißt es seitens der Wissenschaftler:innen. Von zentraler Bedeutung für eine umfassende Transformation des Ernährungssystems sei, dass produktions- und konsumseitige Maßnahmen wirksam ineinandergreifen. Die Bundesregierung sollte daher umgehend eine Strategie und konkrete Maßnahmen-Pakete zur Minderung des Fleischkonsums und der Fleischproduktion, der Lebensmittelabfälle sowie der Nutzung von Bioethanol (aus Energiepflanzenanbau) umsetzen. In dem Brief werden dazu konkrete Handlungsoptionen auf Konsum- und Produktionsseite vorgestellt, die kurz- (innerhalb der nächsten 12 Monate) und mittelfristig (innerhalb dieser Legislaturperiode) besonders wirkungsvoll und umsetzbar seien.
Zu den kurzfristig konsumseitigen Maßnahmen werden unter anderem angesichts der steigenden Lebensmittelpreise gezielte Entlastungen beim Konsum von gesundheitsförderlichen pflanzlichen Lebensmitteln (z.B. reduzierte Mehrwertsteuern auf pflanzliche, gering verarbeitete Grundnahrungsmittel) und die Förderung der Entwicklung und Vermarktung von attraktiven, gesundheitsförderlichen und nachhaltigen Alternativen zu tierischen Produkten genannt. Mittelfristig wird im Anheben der Mehrwertsteuer auf tierische Produkte (z.B. auf den Regelsatz von 19%) ein wirkungsvoller Ansatz gesehen, um den Konsum tierischer Produkte zu reduzieren. Dabei sei jedoch zu beachten, dass im Gegensatz zu einer Steuer auf Emissionen, die Mehrwertsteuer keine Lenkungswirkung auf die Emissionsintensität der Tier- oder Futtermittelproduktion hat. Die Mehrwertsteuererhöhung sollte deshalb durch direkte Abgaben auf Emissionen ergänzt werden. Einkommensschwächere Haushalte sollten zudem begleitend durch gezielte Maßnahmen (z.B. Klima-Dividenden, reduzierte Mehrwertsteuern auf pflanzliche Produkte, erhöhte Grundsicherungsbeträge) entlastet werden.
Kurzfristig wirkungsvolle und umsetzbare produktionsseitige Maßnahmen sehen die Wissenschaftler:innen unter anderem in einer zeitnahen finanziell und logistisch umfassenden und mit geringem administrativem Aufwand verbundenen Unterstützung umstellungswilliger Betriebe, um ihre Produktion und ihre Bewirtschaftungsverfahren anzupassen (v.a. Anpassung der Tierzahlen an die Flächenausstattung und artgerechte Tierhaltung, Effizienzsteigerung durch Technologien wie bspw. Präzisionslandwirtschaft, Steigerung der Produktionsflächen für pflanzliche Lebensmittel für den direkten menschlichen Konsum auf Kosten von Futtermitteln, Extensivierung, Schutz von Moorflächen). Der Abbau von Überkapazitäten in der Tierhaltung könnte beispielsweise kurzfristig durch konditionale Umbauprämien unterstützt werden. Hierbei sei darauf zu achten, dass Betriebsspaltungen verhindert werden. Ziel dieser umfassenden Förderung wäre es, den Umbau zu höheren Tierwohlstandards von existierenden Tierhaltungsanlagen (nicht von Neubauten) unbürokratisch und großzügig zu unterstützen - jedoch nur unter der Bedingung, dass anschließend die Anlagen deutlich geringere Tierzahlen im Vergleich zur Flächenausstattung des Betriebs (Großvieheinheiten/ha) aufweisen.
Die Bundesregierung sollte auf EU-Ebene rasch darauf hinwirken, dass die Mittel aus der europäischen Agrarpolitik im Einklang mit der Farm-to-Fork Strategie gezielt für Maßnahmen mit positiven Umwelt- und Klimawirkungen eingesetzt werden. Wichtige Maßnahmen sind der verstärkte Anbau pflanzlicher Lebensmittel für den menschlichen Konsum (v.a. Hülsenfrüchte), eine Reduktion des Futtermittelanbaus, und die gezielte Förderung von Stickstofffixierern (z.B. Körnerleguminosen und Gründüngung). Dies sind wichtige Schritte, um die Abhängigkeit von Mineraldüngern zu reduzieren, der Bodendegradation entgegenzuwirken und die Lebensmittelproduktion damit krisenresilienter zu machen. Vielfältige Fruchtfolgen mit einem höheren Anteil an Leguminosen würden auch helfen, dem Biodiversitätsverlust entgegenzuwirken.
Mittelfristig seien die Einführung einer verbindlichen Flächenbindung in der Tierhaltung sowie erhöhter gesetzlicher Tierwohlstandards besonders wirkungsvolle Maßnahmen zur nachhaltigen Ausrichtung der Landwirtschaft. Da diese Maßnahmen mit erheblichen Umstrukturierungen in landwirtschaftlichen Betrieben einhergehen, müssten sie mit zielgerichteten Kompensations- und Fördermaßnahmen kombiniert werden. Eine besonders zielgerichtete (jedoch auch aufwendigere) Maßnahme wäre die Einführung einer Abgabe direkt auf Stickstoffüberschüsse, Methan und CO2-Emissionen aus der landwirtschaftlichen Produktion inkl. Tierhaltung.