Die sogenannte Professorenschlachtung

Ein Blick in die Agrargeschichte von Hugo Gödde

Haben wir zu viele Tiere? Soll die Politik Maßnahmen ergreifen und die Tierzahl staatlicherseits reduzieren? Aus Gesundheitsgründen oder für den Klimaschutz? Oder um die Tiere in der Massentierhaltung vor den Menschen zu schützen? Und wenn die Politik eingreift, wie soll sie es machen? Soll sie es den Markt richten lassen? Oder von wissenschaftlichen Kommissionen geleitete Maßnahmen ergreifen? Sollen es Prämien für Abschlachtungen oder Stallstilllegungen oder Hofaufgaben sein? Für alle oder für Intensivhaltungen? Sollen Förderprogramme für Betriebe, die ihre Tierhaltung aufgeben, befürwortet werden, wie es einzelne Tierschutzgruppen fordern? Geht es „nur“ um Tiere oder auch um Höfe, Bäuerinnen und Bauern, Handwerker? Welche Folgen hat eine Verringerung für das Gesamtsystem Landwirtschaft? Ist die Klimafrage nicht vor allem eine soziale Frage?
Die Reduktion der Tierhaltung ist – das gilt als nachhaltig – ein Teil der Transformation der Tierhaltung, besonders der Schweinehaltung. Über die Form, das Ziel und den Zeitraum wird zwischen Parteien, Verbänden, Marktbeteiligten heftig gestritten.
Dabei kann man auch aus der Geschichte manchmal etwas lernen. Und wenn auch nur, wie man es nicht machen darf.

Der „Schweinemord“ von 1915

Vor dem 1. Weltkrieg war das Deutsche Kaiserreich fast vollständig selbst mit Fleisch versorgt, vor allem mit Schweinefleisch. Aber für die Fütterung benötigte man russische und ukrainische Gerste. Vor 1914 wurde etwa 3 Mio. Tonnen importiert. Außerdem war die gesamte Ernährung nur zu etwa 80% gesichert.

Durch die Unterbrechung des Handels mit Russland und die britische Seeblockade wurde der Mangel offenkundig. Da die kaiserliche Regierung weder für den Krieg vorgesorgt und ausreichend Lebensmittelvorräte angelegt hatte und zudem von einem nur kurzzeitigen Feldzug ausgegangen war, wurde im Winter spürbar, dass Maßnahmen zur Versorgung getroffen werden mussten. Das kaiserliche Statistikamt erfragte Anfang 1915 bei den Bauern ihre Vorräte an Getreide, Kartoffeln und Vieh. Das Ergebnis erbrachte, dass für die 25 Mio. Schweine (so groß war die Zahl im Deutschen Reich) nicht genügend Futter zur Verfügung stand. (In der Geschichtswissenschaft wird die Trefflichkeit der Statistik stark infrage gestellt, da die Bauern nicht alles „korrekt“ angegeben hätten.) 

Als Konsequenz empfahlen die Wissenschaftler, die aus den Zahlen Maßnahmen erarbeiten sollten, die außerplanmäßige Schlachtung von 5 Millionen Schweinen, um die Versorgung der Bevölkerung mit Kartoffeln und Getreide zu sichern. Alle Gemeinden mit mehr als 5.000 Einwohnern wurden zur Bevorratung von Fleischdauerwaren verpflichtet.

Die staatlich angeordneten Schlachtungen im März 1915 brachten enorme Mengen Schweinefleisch auf den Markt, so dass die Preise in den Keller fielen. Die Konservierung funktionierte aber nur kurzzeitig, weil für die Konservendosen nur minderwertiges Blech benutzt werden konnte. Das Metall wurde für die Waffen benötigt. In der Folge verdarb ein Großteil des gelagerten Fleisches bereits bis zum Herbst – und die Preise explodierten. Ende 1915 wurde eine Preisobergrenze für Schweinefleisch festgesetzt, die aber dazu führte, dass sich ein Schwarzmarkt entwickelte und das Fleisch noch knapper wurde. Der Fleischpreis stieg in ungekannte Höhen, während Kartoffeln und Weizen zu vorgeschriebenen Niedrigpreisen abgegeben werden musste. „Bauernschlaue“ Landwirte verfütterten Vorräte ans Vieh, weil es viel mehr einbrachte. Selbst manches „Futter“, das eigentlich für die menschliche Ernährung gedacht war, ging durch den Tiermagen auf den Schwarzmarkt. Die Versorgung der Bevölkerung verschlechterte sich noch mehr.

Kein Fleisch, kein Dünger und schlechtes Wetter

Der Schweinebestand verringerte sich weiter. 1916 wurden noch 17 Mio. Schweine gezählt. Es entspannte sich aber nicht die Versorgung mit Kartoffeln und Getreide; denn durch das Fehlen von 8 Mio. Schweinen fehlte der tierische Dünger auf den Feldern. Zugleich behinderte die britische Seeblockade auch den Import von Kunstdünger/Salpeter aus Chile. Die Restbestände beschlagnahmte das Militär für Munition. Außerdem fehlten die Arbeitskräfte, die an der Front waren. Zwangsläufig sanken die Erträge auf die Hälfte der Vorkriegszeit. Dazu verregnete die Kartoffelernte 1916 und die Krautfäule verschärfte die Missernte. Die Hungerkatastrophe brach herein.
Erst wurden die Lebensmittel rationiert, dann ersetzte die Steckrübe die Kartoffeln. Zum Schluss wurden gar die Steckrüben begrenzt. Die damaligen Sorten stanken beim Kochen, schmeckten bitter, waren sehr wässrig und von geringem Nährwert. Der Winter 1916/ 1917 ging als Steckrüben- oder Hungerwinter in die deutsche Geschichte ein.

„Professorenschlachtung“

Die Tötung von Millionen Schweinen 1915 gilt in der Agrargeschichte als Fehler der Statistik bzw. der Wissenschaftsbewertung. Sie wird daher auch als „Professorenschlachtung“ bezeichnet, da die Professoren die Schlachtungen nur auf der Basis ihrer theoretischen Modelle empfohlen hatten. Historiker wie Reinhard Güll sind überzeugt, dass die verzweifelte Hungerlage durch die unverzeihlichen Fehlentscheidungen der Experten ein wesentlicher Grund für die militärische Niederlage an der Front und in der Heimat waren. Die Idee des „Schweinemordes“, um die Bevölkerung vor Hunger zu schützen, aber die Folgen wie die Marktverschiebungen und den Ausfall des Stickstoffdüngers nicht zu berücksichtigen, führte zum Hungertod von geschätzt mehr als einer halben Million Menschen.

02.11.2022
Von: Hugo Gödde

Erhebung der Vorräte an Kartoffeln in der Stadt Münster, Mai 1915; Stadtarchiv Münster, Stadtgeschichtliche Dokumentation Nr. 62.1