Fleischalternativen zwischen Hype und Realitätskrise

Marktbeobachtungen von Hugo Gödde +++ Fleisch- und Milchalternativen sind auf dem Vormarsch in alle Winkel unserer Ernährung. Der Markt für Ersatzprodukte boomt. Diesen Eindruck kann man bekommen, wenn man die öffentliche Debatten um Fleisch und Milch beobachtet. Kein Einzelhändler kommt ohne eine besondere Werbung für vegan oder vegetarisch aus. Wer in einer größeren Stadt einen Capuccino bestellt, muss die Frage nach Kuh- oder Hafermilch beantworten. Jeder einfache Imbiss-Laden bietet einen veganen Döner an. Jede Studierendenmensa, die etwas auf sich hält, hat eine mehr oder weniger große vegane Menuepalette. In meiner Münsteraner Heimatzeitung waren am Wochenende vier Artikel über vegane Ernährung, einer über Klimawandel und Null über Bio zu lesen. Wer vor allem unter jungen Leuten cool oder hip sein will, muss eben pflanzenbasierte Produkte im Angebot haben. Außerdem tut man ja etwas für seine Gesundheit und rettet nebenbei die Welt, mindestens das Klima.

ANUGA präsentiert „planted based“

Auch auf der Anuga, der Weltleitmesse für Lebensmittel, spielten letzte Woche Ersatzprodukte, die sich lieber als „planted based“ (englisch ist immer cool und drückt Weltoffenheit aus) oder als Teil der gesunden Ernährung sehen, keine geringe Rolle. Die Messepremiere von „Anuga Horizon“ stellte start-ups und Lebensmittelpioniere heraus und diskutierte über Fleischersatz, Laborfleisch, Zellfisch und überhaupt alternative Proteine. Ethan Brown, Chef des größten Fleischersatzunternehmens Beyond meat, warb für pflanzliche Ernährung zur Verbesserung der menschlichen Gesundheit. Sie würde „der Erde gut tun und außerdem Tierleid verhindern“.

Die Lebensmittelzeitung wirbt für ihren Fleischkongress (!) im November ganzseitig mit Godo Röben, dem Pionier, Aufsichtsrat und Investor von Fleischersatz. Die Euphorie scheint in der Branche nach wie vor hoch. „Die Veränderung kommt. Wir entscheiden nur noch, ob mit uns oder ohne uns,“ verkündet Röben vollmundig die Perspektive. Und manche Investoren träumen schon von einer großen, neuen Industrie einschließlich Laborfleisch. Bioreaktoren, Zelllinien und Nährmedien sollen schon in fünf Jahren marktreif sein, so im Überschwang Wolfgang Kühnl, Chef von Infamily Foods, einer Tochter von The Family Butcher (TFB), die - hervorgegangen aus einer Fusion der Fabriken von Reinert und Kemper - die Nr. 2 in der Wurstbranche ist. Infamily Foods hat als erstes Unternehmen in Europa eine Zulassung für zellbasierte Schweinefleischprodukte beantragt.

Nebenbei: Die Wurstfabriken von TFB steckten in finanziellen Schwierigkeiten (Originalton: „es war bitternst“), stehen nach eigenen Angaben in Sanierung, haben nach Standortschließungen in Vörden und Lörrach 20% Kapazität verloren und wollen nach einer Stabilisierung die Kostenführerschaft im Preiseinstieg erobern.

Der Fleischersatz-Markt schwächelt

Das Veggie-Klientel gilt als interessant, weil es kaufkräftig und gut organisiert ist. Bei aller Marketing-Euphorie ist zugleich festzuhalten, dass sich auf dem Markt Ernüchterung breit macht. Die Zeiten großer Wachstumsraten sind erst einmal vorbei. 2020 lag laut Stat. Bundesamt das Wachstumstempo der Herstellung noch bei 38%, 2021 bei 16%. Trotz eines Umsatzwachstums von 6% beim Fleischersatz in diesem Jahr liegt der Marktanteil bei nischenhaften 1,2%. Mit gut 600 Mio. € Umsatz ist die Reichweite eher eingeschränkt und rein preisbedingt, während der Absatz stagniert. Den gesamten Veggie-Markt in Deutschland schätzen Konsumforscher auf rund 2,4 Mrd. € bei ca. 200 Mrd. € Gesamtmarkt. Dabei liegt Deutschland in Europa bei der Menge und dem Wachstumstempo deutlich an der Spitze. In anderen Ländern wie Italien und Frankreich sind die Konsumenten viel skeptischer gegenüber dem Trend.

Es sei unrealistisch zu erwarten, dass der Markt kontinuierlich steil nach oben gehe, redet sich Röben die Entwicklung schön. Es gebe immer wiederkehrende Schwächephasen, in denen er eine Chance sieht. „Gerade in Krisenzeiten können Hersteller mit Neuentwicklungen Marktanteile gewinnen“, ist er überzeugt. Aber erst einmal wird die Konkurrenz größer und die Absatzdecke für alle kürzer.

Marktpotentiale kleiner als gedacht oder Absatzdelle?

Auch der Ernährungsreport 2023 der Bundesregierung bestätigt, dass der Anteil der Veganer (2%) und der Vegetarier (8%) in den letzten Jahren gestiegen ist. Als Kaufgründe gaben 71% der Befragten Neugier an. Erst dann folgten Tierschutz und Klimaschutz. Damit bekräftigt der Report die Marktkenner, die eine geringe Wiederkaufbereitschaft ausgemacht haben. Etwa jeder zweite Kunde geht nach dem ersten Kauf verloren. Als Ursache werden hohe Preise, geringe Qualitäten und unzureichender Geschmack genannt. Mit immer neuen, aber unausgereiften Produkten gewinnt man offensichtlich nicht eine breite Kundschaft. Manche Unternehmen wie veganz, Infamily Foods und „Like meat“, die Nr. 2 am Markt, reduzieren eher ihren „Gemischtwarenladen“, um sich nicht zu verzetteln. Andere setzen auf neuartige Verfahrenstechniken, die aber teuer und teils umstritten sind (Gentechnik).

Kleinen, innovativen start-ups fehlt dafür das Geld. Und der Kapitalmarkt ist nach hohen Anfangserfolgen mit Einstieg großer Kapitalgeber inzwischen um die Hälfte gesunken. Nicht mehr das Wagniskapital treibt den Sektor für alternative Proteine an, sondern Investitionen und Partnerschaften von etablierten Handels- und Industrieunternehmen wie Wiesenhof, Tönnies, Nestlé. Sie machen den „reinen“ veganen Unternehmen das Leben schwer. Aber bei klassischen Wurstfabriken, die einen Zusatzumsatz für ihre unausgelasteten Anlagen anstreben, sind es nicht nur die Chancen eines neuen Marktes, die sie antreiben, sondern auch die eklatanten Schwächen des „tierischen Heimatmarktes“, der sich seit Jahren im Abschwung befindet – verstärkt aktuell durch hohe Fleischpreise und Konsumverzicht.

Weitere Verluste bei Veganz

Wer Fleisch und Wurst kann, kann auch Fleischersatz. Diese einfache Rechnung geht in umkämpften Märkten nicht auf. Das merken auch „Gutfleisch“ (Tönnies), Ponath, Westfleisch oder gar der Marktführer Rügenwalder, aber sie setzen die „reinen“ veganen Unternehmen unter Druck. Das bekannte Berliner vegane Unternehmen „Veganz“ bleibt in der Verlustzone. Im ersten Halbjahr erlöste die börsennotierte Firma mit 9 Mio. € Umsatz ein Minus von 25%. Ein Produktionsstandort wurde geschlossen, Mitarbeiter entlassen, aber dennoch wieder investiert. 3 Mio. € Verlust hat Veganz in den ersten sechs Monaten „erwirtschaftet“, ein Drittel des Umsatzes! Der Chef bleibt zuversichtlich. „Im ersten Halbjahr haben wir unseren Verlust fast halbiert“, sagt Bredack. „Wir robben uns an die Profitabilität heran.

Der Absturz des Superstars Beyond Meat

Das beste Beispiel ist das auch in Deutschland bekannte Vorzeigeunternehmen Beyond Meat, das weiterhin in schwerem Wasser schwimmt. Beyond Meat, quasi der Erfinder des Fleischersatzes aus Kalifornien, der durch Börsenkapital immens aufgeblasen wurde, verzeichnet seit Jahren unglaubliche Verluste und hat noch nie schwarze Zahlen geschrieben. Der Umsatz stieg in 2022 auf 418 Mio. Dollar bei einem Nettoverlust von ca. 100 Mio.$. In manchen Monaten war der Verlust höher als der Umsatz. Der Börsenwert startete 2019 bei 25 $, stieg auf 162 $ (2020) und sank seither auf aktuell 13 $ trotz immenser Kostensenkungsmaßnahmen und Entlassungen von hunderten von Mitarbeitern. Dabei liegt der Preis für Fleischersatz in den USA bei 100% über Rindfleisch und 200% über Schweinefleisch. „Wir müssen die Preise senken, um den Massenmarkt zu erreichen,“ fordert Chef Ethan Brown auf der Anuga für Planted based-Produkte. Inwieweit er damit sein Unternehmen angesichts der verheerenden Verluste in die Pflicht nehmen wird, lässt sich schwer ergründen.

Lidl senkt in dieser Krise die Preise

Dass die Preise herunter müssen, wenn der Absatz steigen soll, ist unter Analysten keine Neuigkeit. Jetzt haben Lidl und Kaufland angekündigt, vegane Produkte auf tierische Preise zu drücken, wie es die Lebensmittelzeitung ausdrückt.Die vegane Alternative kostet bei Lidl seit dieser Woche genauso viel wie gemischtes Hackfleisch. Dasselbe gilt für Käse, Milch und Joghurt und Kekse der Eigenmarke Vemondo. Beim Burger bedeutet dies einen Abschlag von etwa 25 Prozent, quer durch die 45 Artikel mit knapp 100 Varianten liegt der Nachlass bei 23 Prozent.“ Damit will Lidl ein Zeichen setzen, „Chancengleichheit“ herstellen und Mengeneffekte generieren, aber auch auf eigene Marge verzichten, um die „sehr ressourcenintensive tierische Produktion zu reduzieren“, so Einkaufschef Christoph Graf.

Zugleich stützt es die Protein-Vorgaben des Discounters, der sein Sortiment an der Ernährungsweise der „Planetarische Gesundheitsstrategie“ ausrichten will, die auf unserer Erde auch zehn Milliarden Menschen gesund satt bekommen möchte. Deshalb möchte man den Anteil veganer Proteine bis 2030 verdoppeln – was bei niedrigem Ausgangspunkt keine große Leistung darstellt.

Ob die Konkurrenz mitzieht, ist noch nicht entschieden. Nicht wenige halten es für einen Marketing-Gag, den sich Lidl bei seiner gefüllten Kriegskasse erlauben kann. Aldi verweist auf das Prinzip von Angebot und Nachfrage. Rewe will die Angelegenheit „verfolgen“.

Manche Bauern- und Verbraucherverbände fragen sich, ob demnächst der Handel/Discount seine Marktmacht ausnutzt, um nicht nur unseren Einkauf, sondern auch unsere Ernährung zu bestimmen. Das kann nach hinten losgehen. Die Grünen können davon ein Lied singen.

Der Marktbeobachter geht davon aus, dass der Markt für Fleischalternativen weiterhin wachsen wird, aber er sieht eine klaffende Lücke zwischen dem Hype in der öffentlichen Darstellung und der Marktrealität. Die Hersteller kämpfen in der Absatzkrise eher ums Überleben bzw. um neue Strategien und Kapitalgeber. Man lernt einmal mehr, dass der Aufbau neuer Märkte Zeit und viel Geld kosten. Die Geduld der Investoren ist sicherlich nicht unendlich. Nicht höhere Umsätze erfreuen sie, sondern auf Dauer nur Gewinne und Margen. Die Lidl-Strategie der Gleichsetzung von tierischen und pflanzlichen Proteinen ist für die Hersteller sicherlich eine Kampfansage. Aus dem öffentlichen Hype könnte eine „Marktbereinigung“ werden.

18.10.2023
Von: Hugo Gödde

Mit solchen Anzeigen, unter anderem ganzseitig in der Zeit, wirbt Lidl für Fleischersatzprodukte.