Hunderte von Landwirtinnen und Landwirten aus ganz Europa haben in Brüssel auf Initiative des European Milk Board (EMB) unter dem Motto „Ein faires Einkommen für die Landwirte JETZT!“ für Fairness im Agrarsektor demonstriert und auf diesem Weg ihre Forderungen an die zeitgleich tagenden EU-Agrarminister sowie an die EU-Kommission und das Parlament herangetragen. Die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL), Mitglied im EMB, sieht die Demonstration auch als Signal an die Ampelregierung in Berlin.
Als Verband europäischer Milchbäuerinnen und -bauern aus mehr als 15 Ländern hatte das EMB die wichtige Demonstration im Vorfeld des UNESCO-Weltmilchtages am 1.Juni und der Europawahl organisiert. Die Demonstrationsteilnehmer kamen mit in den Farben der jeweiligen Nationalflaggen gekennzeichneten Kühen; den sogenannten Faironikas und Justines, um die Vielfalt und Einheit der Bewegung zu symbolisieren.
„Wir sehen seit Monaten Proteste der LandwirtInnen in ganz Europa. Es ist offensichtlich: Das Agrarsystem muss reformiert werden“, so der Vorsitzende des EMB, Kjartan Poulsen. Wie er betont, sei es jedoch in der aktuellen Diskussion um Lösungen für die Agrarkrise noch nicht deutlich genug, in welche Richtung die Veränderungen gehen müssten. „Eine faire Landwirtschaft, ein faires Einkommen müssen das Ziel für die Reformen sein. Es reicht nicht mehr aus, Schwierigkeiten zu umschiffen – wir müssen die Wurzel des Problems angehen und echte Veränderungen schaffen“, so der gebürtige Däne.
Sein deutscher Kollege und Vizevorsitzende des EMB, Elmar Hannen, verweist auf die Einkommenszahlen, die den großen Nachteil und die soziale Misere für die Landwirtinnen in Europa deutlich vor Augen führen. „Schaut man sich die Einkommen der Landwirte an, dann sieht man, dass wir jahrelang nicht einmal 50 Prozent des EU-Durchschnittseinkommens bekommen haben. 2016 lagen wir sogar unter 40 Prozent und 2021 haben wir das erste Mal überhaupt erst einen Wert über der 50 Prozentmarke erreicht“, so Hannen. „Das ist nicht nur eine ernstzunehmende Schieflage, sondern eine Katastrophe für die LandwirtInnen und ihre Familien sowie auch für die europäische Ernährungssicherheit.“ Nicht nur im Hinblick auf die demnächst stattfindende Europawahl sei jetzt die Zeit gekommen, soziale Fairness endlich zu etablieren. Die Erzeuger verlassen den Sektor in Scharen. Junge Menschen werden von der Perspektivlosigkeit abgeschreckt und sehen keine Möglichkeit, in die Produktion einzusteigen. „Wir vom EMB fordern daher, diese Möglichkeit zum Weiterproduzieren und zum Einstieg jetzt zu schaffen. Die Politik muss einen Rahmen für faire Einkommen in der Wertschöpfungskette installieren, so dass kostendeckende Preise an die Erzeuger endlich realisiert werden können. Denn sonst verlieren wir gemeinsam mit den Produzenten auch unsere Fähigkeit, ausreichend Nahrungsmittel in der EU zu produzieren“, ergänzt Hannen. Auch als Voraussetzung für erfolgreiche Umwelt- und Klimamaßnahmen seien kostendeckende Preise essentiell notwendig.
Boris Gondouin, Vorstandsmitglied des EMB aus Frankreich, weiß, dass sich die Erzeugung von Lebensmitteln und soziale Nachhaltigkeit/Fairness prinzipiell gut kombinieren lassen. „Die Mitglieder des EMB haben sich in den vergangenen Jahren vielseitig für einen fairen Sektor eingesetzt – sei es durch ihre politische Arbeit, das Erarbeiten von realitätsnahen Konzepten und die Förderung von Kostenkalkulationen, oder auch durch die Projekte der Fairen Milch, die sie in verschiedenen Ländern ins Leben gerufen haben. Wir wissen daher, dass Fairness möglich ist und wir fordern den Einsatz dafür europaweit ein. Wir fordern es von der EU-Kommission, dem Parlament und Rat sowie auch von allen Verbänden, die es sich auf die Fahne geschrieben haben, LandwirtInnen zu vertreten. Wer sich Vertreter der Landwirte nennt, muss auch deren vitale Interessen nach vorn bringen!“
AbL: Ampel muss marktpolitische Rahmenbedingungen ermöglichen
Anlässlich der Demonstration in Brüssel erklärt AbL-Vorstandsmitglied Elisabeth Waizenegger: „Die Bäuerinnen und Bauern setzen sich mit dieser Demo für eine sozialgerechtere Agrarpolitik ein. Mehr Tierwohl können wir, aber wir brauchen dafür Rahmenbedingungen, damit diese höheren Kosten am Markt auch gewinnbringend erwirtschaftet werden können. Die Forderungen der Bäuerinnen und Bauern richten sich an die EU-Politik. Aber die Demo ist auch ein wichtiges Signal an die Ampelregierung in Deutschland, dass die Basis der Bauernschaft marktpolitische Rahmenbedingungen fordert. Mehr Tierwohl und Ordnungsrecht etwa über das geplante verschärfte Tierschutzgesetz der Bundesregierung kostet unseren Betrieben mehr Geld. Deshalb muss die Ampel jetzt marktpolitische Rahmenbedingungen ermöglichen.“
Der Grundpfeiler der europäischen Ernährung wankt nach Ansicht des EMB bereits gefährlich. „Landwirte in ganz Europa haben heute für einen Tag ihre Felder und Melkstände verlassen, um mit den nationalen Faironikas und Justines in Brüssel für faire Einkommen zu demonstrieren. Werden die dafür notwendigen Reformen nicht endlich veranlasst, verlassen sie und viele ihrer Kollegen die Felder und Melkstände nicht nur für einen Tag, sondern für immer“, so das EMB.
Die folgenden Reformmaßnahmen müssen nch Ansicht des EMB daher sofort in die Wege geleitet werden (die Forderungen des EMB im Wortlaut):
1. Eine EU-weite Verordnung, durch die Preise unterhalb der Erzeugerkosten verboten werden. Warum?
Was in anderen Branchen eine Selbstverständlichkeit ist – dass die Kosten weitergegeben werden und sich im Preis widerspiegeln – ist in vielen landwirtschaftlichen Sektoren nicht der Fall. Die ‚unsichtbare Hand des Marktes‘ drückt hier sehr deutlich und sichtbar die Preise unter die Kostenlinie. Eine EU-Verordnung, die diese Unterdeckung verbietet, würde EU-weit zu einer Stabilisierung der Einkommenssituation und damit auch der Produktionsstruktur führen.
2. Passende Kriseninstrumente müssen in das EU-Agrarsystem eingebunden werden. Dazu gehört ein funktionierender Frühwarnmechanismus, der mit den richtigen Indikatoren, die die tatsächlichen Produktionskosten inklusive eines angemessenen Erzeugereinkommens widerspiegeln, arbeitet und der bei Krisengefahr Maßnahmen wie den freiwilligen Lieferverzicht/ das Marktverantwortungsprogramm automatisch aktiviert. Warum?
Im Milchmarkt beispielsweise jagte in den vergangenen Jahren eine Krise die nächste. Überschussproduktion ließ die Preise tief stürzen und drängte jedes Mal sehr viele Erzeuger aus der Produktion. Diese Krisen kann man verhindern bzw. vermindern, wenn man sie mit dem richtigen Mechanismus zeitig genug erkennt und beispielsweise mit einem Mengenreduktionsprogramm der Überschussproduktion entgegenwirkt. Das funktioniert, wie der Einsatz dieses Programmes 2016/ 2017 in der EU zeigt.
3. Konkrete EU-Vertragsvorgaben zu u. A. Mengen und kostendeckenden Preisen vor Ablieferung der Milch. Diese müssen für alle Marktakteure und damit auch Genossenschaften gelten. Warum?
Nur wenn Verträge die richtigen Elemente enthalten müssen, können sie die Position der Erzeuger am Markt verbessern. Die ungleiche Verteilung in der Wertschöpfungskette ist auf die ungleiche Marktstärke der Akteure zurückzuführen. Während Verarbeiter und Handel sicherstellen können, dass ihre Produktionskosten gedeckt sind und sie außerdem hohe Profite mit Lebensmitteln erzielen, sind auf der Erzeugerstufe Defizite an der Tagesordnung.
4. Starke horizontale Erzeugerorganisationen, die, ohne Ausnahme von Genossenschaften, Erzeuger für eine bessere Verhandlungsposition bündeln. Warum?
Starke Erzeugerorganisationen sind auch starke Verhandlungspartner, wenn es um das Aushandeln der Erzeugerpreise gegenüber den Molkereien geht. Stark kann so eine Organisation aber nur sein, wenn sie viele Erzeuger bündelt und mit mehreren Molkereien verhandelt, also horizontal ist. Sogenannte vertikale Erzeugergemeinschaften, die von einer Molkerei abhängen, können diese Stärke nie entwickeln.
5. Ein wirklicher Einbezug der Erzeuger in Konzepterstellung und Umsetzung des Green Deals, inklusive Bereitstellung der richtigen Tools. Warum?
Aktuell werden Erzeuger an der Erstellung des Green Deals nicht beteiligt. Ihnen werden die Ziele lediglich diktiert und sie sollen mit ihrem ohnehin schon niedrigen Agrareinkommen die Lasten dieser Strategien tragen. Das muss sich ändern. ErzeugerInnen müssen ins Zentrum der Agrarstrategien gesetzt werden und diese maßgeblich mitgestalten. Der Klimaschutz braucht die Bäuerinnen und Bauern. Der Green Deal muss genutzt werden, um das aktuelle System zu einem sozial-nachhaltigen Modell zu reformieren.
6. Spiegelklauseln, die gewährleisten, dass importierte Lebens- und Futtermittel den Vorgaben in der EU entsprechen. Deren Befolgung muss zudem durch ausreichende Kontrollen und Sanktionen sichergestellt werden. Warum?
Wenn Waren importiert werden, die beispielsweise nicht unter den gleichen Umweltauflagen wie EU-Produkte produziert wurden, schaden sie gleich mehrmals. Zum einen können sie durch geringere Produktionskosten aufgrund der geringeren Umweltqualität die Produkte der EU-Erzeuger unterbieten und diese vom Markt drängen. Das geringe Kostenniveau motiviert zudem zum Auslagern der Produktion außerhalb der EU, was dort zu stärkerer Umweltbelastung führt. Und das für Waren, die in der EU konsumiert werden.
7. Das Projekt der Fairen Milch in der EU öffentlich stärken und ausweiten. Warum?
Die Faire Milch zeigt, wie es geht. Bei diesem Projekt werden kostendeckende Preise an teilnehmende Erzeuger ausbezahlt, inklusive eines fairen Einkommens. Auch wenn es die Faire Milch Projekte bereits in Ländern wie Frankreich, Deutschland, Belgien, Luxemburg und der Schweiz gibt, erreichen sie noch nicht ausreichend Verbraucher und Produzenten. Der positive Einfluss, den die Faire Milch auf das Leben und Einkommen der Bäuerinnen und Bauern hat, sollte weitaus mehr Produzenten zugutekommen. Dazu kann die EU sowie jedes ihrer Mitgliedsländer mit einer öffentlichen Anerkennung der Fairen Milch beitragen.