Absetzbewegungen vom Tierwohl

Es war einmal der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik beim Bundeslandwirtschaftsministerium (WBA), der 2015 ein Gutachten vorlegte mit dem wohlklingenden Titel: „Wege zu einer gesellschaftlich akzeptierten Nutztierhaltung“. Darin stand im Prinzip, dass die Tierhaltung in Deutschland ein zwar wirtschaftlich sehr erfolgreicher Sektor mit allerdings erheblichen Defiziten in Sachen Tier- und Umweltschutz sei. Gepaart mit einer veränderten Mensch-Tier-Beziehung führe das zu einer verringerten gesellschaftlichen Akzeptanz. Die Haltungsbedingungen eines Großteils der Nutztiere seien nicht zukunftsfähig. Wörtlich heißt es in der Zusammenfassung: „Angesichts des globalen ökologischen Fußabdrucks und der negativen gesundheitlichen Effekte eines sehr hohen Fleischkonsums spricht sich der WBA für die Strategie einer tiergerechteren und umweltfreundlicheren Produktion bei gleichzeitiger Reduktion der Konsummenge aus.“ Konkrete Leitlinien zeigen die Vorstellung des WBA von so einer Produktion auf: Ställe mit verschiedenen Klimazonen, vorzugsweise Außenklima, Einrichtungen zur artgemäßen Beschäftigung, ausreichend Platz, Arzneimittelreduktion, Verzicht auf Amputationen, andere Zucht, bessere Ausbildung des Personals, … Auch die Pferdefüße benennt der WBA: „Für einen Großteil der Tierhaltung führt die in dem Gutachten konkretisierte Umsetzung der Leitlinien zu Mehrkosten in der überschlagsmäßig ermittelten Größenordnung von 13 bis 23 Prozent (insgesamt etwa 3 bis 5 Mrd. Euro jährlich). Ohne politische Begleitmaßnahmen würde eine solche Kostensteigerung aufgrund des Wettbewerbsdrucks in der durch Kostenführerschaft geprägten Fleisch- und Milchwirtschaft zur Abwanderung von Teilen der Produktion in Länder mit geringeren Tierschutzstandards führen, wodurch die Tierschutzziele konterkariert würden.“

Es dauerte dann vier Jahre bis zum Sommer 2019, bevor eine mit Mitgliedern aller beteiligten Interessensgruppen – Bauern und Bäuerinnen, Umwelt- und Naturschützer, Wirtschaftsvertreter – wie auch der Wissenschaft besetztes Kompetenznetzwerk Nutztierhaltung unter dem Vorsitz des ehemaligen Agrarministers Jochen Borchert begann, ein konkretes Konzept zum Umbau der Tierhaltung zu erarbeiten. Im Februar 2020 stellte das Netzwerk seinen Konsens vor, einen Umbau der Tierhaltung mit Tierwohlkriterien, Zeitachse und Finanzierungskonzept. Alle politischen Parteien waren begeistert über so viel Wissenschaftlichkeit und branchenübergreifende Kompromissfähigkeit und setzen die Pläne bereitwillig um. Und wenn sie nicht in der Wurst gelandet sind, dann halten die Schweine glücklich ihre Rüssel in die frische Luft, während ihre Bauern und Bäuerinnen in einem gesetzlichen Rahmen ökonomisch abgesichert sind.

Realität

Das Märchen wird zum Märchen erst zwei Sätze vor dem Schluss. Schon zwei Agrarminister:innen tun sich schwer damit, das umzusetzen, was Wissenschaft und Praxis erarbeitet haben. Dabei hatte der aktuelle Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) bei der Amtsübernahme noch auf die Bedeutung des Prozesses hingewiesen. Seitdem hat eine schleichende Wegbewegung davon stattgefunden, auch in der Rhetorik. Statt von der gesellschaftlichen Akzeptanz und dem Umbau der Tierhaltung wie auch vom Tierwohl zu sprechen, geht es inzwischen immer mehr um die Reduzierung der Tierbestände zur Erreichung von Tierwohl und Klimaschutz. Tierbestände zu reduzieren ist nun an sich kein falsches Ansinnen, bringt aber nicht automatisch mehr Tierwohl und die Frage des Wie mit sich: Ziehe ich mich auf die Rolle eines Aufklärers in Sachen Haltungsbedingungen zurück, verschärfe ich die Auflagen und überlasse ich es dem Markt, so dass nur übrig bleibt, wer als Betrieb die nötige Größe und das nötige Kleingeld hat, diese zu erfüllen? So mutet das Rollenverständnis des Bundeslandwirtschaftsministeriums inzwischen an. Natürlich soll es auch Fördermittel geben für den Umbau der Ställe. Im Gespräch sind gerade die ersten 150 Mio. Euro, die allerdings nur in der Mastschweinehaltung und am liebsten über das Instrument der Agrarinvestitionsförderung (AFP) ausgeschüttet werden sollen. AFP-Mittel bekommen aber nur Betriebe, die in den vergangenen Betriebsjahren eine positive Eigenkapitalbildung vorweisen konnten, viele Betriebe mit Schweinehaltung können das angesichts der ökonomisch schwierigen letzten Jahre nicht. Und nicht am Markt realisierbare Mehrkostenausgleiche artgerechter Haltungssysteme – siehe WBA-Expertise – werden höchstens als zukünftig geplante Tierwohlprämien vom Ministerium angedeutet. Das Kompetenznetzwerk Nutztierhaltung hatte ein Finanzierungsmodell für Umbau und laufende Mehrkosten entworfen, das sich über eine Mehrwertsteuererhöhung oder Abgaben auf tierische Produkte getragen hätte. Das fanden alle Parteien von Anfang an nicht so richtig toll. In der Ampelregierung war es dann vor allem die FDP, die eine marktwirtschaftliche Variante wollte. Nun schreibt sie sich die Bereitschaft zu einer Tierwohlfinanzierung ins niedersächsische Wahlprogramm. Das begrüßt auch die grüne Bundestagsfraktion in einer Pressemitteilung. Allerdings beschreibt bei genauerem Lesen die Fraktionsvorsitzende Renate Künast einen etwas anderen Verwendungszweck, als es sich die gesamte Branche und die Wissenschaft überlegt hatten: „Für einen erfolgreichen Umbau der Tierhaltung braucht es natürlich ein ganzes Bündel an Maßnahmen: eine verpflichtende Kennzeichnung aller tierischen Lebensmittel, höhere Mindeststandards und eine gesicherte Finanzierung, eine Herkunftskennzeichnung und natürlich eine Neuausrichtung der Gemeinschaftsverpflegung.“ Von Tierwohl ist keine Rede mehr. Bauern und Bäuerinnen werden so weder motiviert noch befähigt, ihre Ställe auf artgerechte Haltungssysteme hin umzubauen. Es werden einfach noch mehr gerade bäuerliche Schweinehaltungsbetriebe aufgeben. Das bedeutet noch weniger Wertschöpfung im ländlichen Raum, mehr Frust und Perspektivlosigkeit, aber auch weniger gesellschaftliches Engagement, dort, wo immer weniger Menschen ihr Auskommen haben. Offensichtlich ist das Kalkül der Parteien, dass Wahlen inzwischen in den Städten entschieden werden, da mag es nachvollziehbar erscheinen, sich auf das Klientel zu fokussieren. Blöd nur, dass Lebensmittel vornehmlich auf dem Land erzeugt werden.