Pestizidatlas 2022 zeigt: Neue Bundesregierung muss Pestizidwende einleiten

Die Heinrich-Böll-Stiftung, der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) und das Pestizid Aktions-Netzwerk (PAN Germany) fordern von der Bundesregierung, den Einsatz von Pestiziden konsequent zu reduzieren. Vor allem besonders toxische Pestizide müssen verboten werden und bereits in der EU verbotene Pestizide dürfen nicht länger exportiert werden, wie die Organisationen bei der Vorstellung des "Pestizidatlas 2022" betonten. Anlässlich der Vorstellung fordern unter anderem auch Bioland und der grüne EU-Abgeordnete Martin Häusling konsequente Schritte zur Reduktion des Pestizideinsatzes. Der "Pestizidatlas 2022" zeigt, dass die Menge weltweit eingesetzter Pestizide seit 1990 um 80 Prozent gestiegen ist. In einigen Regionen wie Südamerika sogar um fast 150 Prozent. Der Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen, wie zum Beispiel Soja als wichtiges Futtermittel für die Tierhaltung, hat in Ländern mit großer Artenvielfalt zu einer gravierenden Ausweitung des Einsatzes an Herbiziden geführt. Auch in der EU liegt der Einsatz mit rund 350.000 Tonnen auf hohem Niveau. In Deutschland werden zwischen 27.000 und 35.000 Tonnen Pestizidwirkstoffe pro Jahr verkauft. Die Menge schwankt vor allem aufgrund von Witterungsbedingungen und aufgrund von unterschiedlichen Preisen für Agrar- und Pestizidprodukte. Der Einsatz von Pestiziden führt laut Pestizidatlas zu anhaltenden Belastungen von Mensch, Natur und Umwelt. So lassen sich an Luftmessstellen Pestizide nachweisen, die bis zu 1000 Kilometer weit entfernt ausgebracht wurden. Auch in Naturschutzgebieten finden sich Pestizidrückstände. Insbesondere Gewässer in der Nähe landwirtschaftlich genutzter Gebiete weisen hohe Pestizidbelastungen auf. Meeressäuger an deutschen Küsten sind bis heute mit Pestiziden belastet, die seit 40 Jahren verboten sind. Eine fatale Wirkung hat der Einsatz von Pestiziden auf die biologische Vielfalt: konventionell bewirtschaftete Äcker weisen nur drei Prozent der floristischen Artenvielfalt auf, die auf Äckern zu finden ist, die noch nie mit Pestiziden behandelt wurden. Auf biologisch bewirtschafteten Äckern liegt die Vielfalt mit 53 Prozent erheblich höher. Die global wachsende Menge an eingesetzten Pestiziden führt weltweit zu einem Anstieg an Pestizidvergiftungen – insbesondere im Globalen Süden, wo Arbeiter*innen oftmals nicht ausreichend geschützt sind. So sei konservativen Berechnungen zufolge in Asien von jährlich rund 255 Millionen Vergiftungsunfällen auszugehen, in Afrika von knapp über 100 Millionen und in Europa von rund 1,6 Millionen. Barbara Unmüßig, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, sagt: "Auch in Europa sprühen wir viel zu viel: Alleine Äpfel, das Lieblingsobst der Deutschen, werden etwa 30-mal pro Saison gespritzt, Weinreben bis zu 17 mal und Kartoffeln bis zu 11 mal. Vor allem in Ländern mit großer Artenvielfalt wie Brasilien, Argentinien und Paraguay ist der Herbizideinsatz insbesondere seit der großflächigen Einführung von gentechnisch verändertem, pestizidresistenten Soja, das als billiges Futtermittel für die Tiermast eingesetzt wird, dramatisch gestiegen. Damit wurde auch das zentrale Versprechen der Agro-Gentechnik, Ackergifte mit Hilfe von Gentechnik deutlich zu reduzieren, auf groteske Weise konterkariert. Wir brauchen dringend eine Trendumkehr – dafür ist jetzt die europäische und deutsche Politik in der Verantwortung. Die Bundesregierung hat von der jungen Bevölkerung dafür einen klaren Handlungsauftrag, wie eine repräsentative Umfrage in unserem Pestizidatlas 2022 zeigt: Mehr als 70 Prozent der Befragten fordern eine deutliche Reduktion des Pestizideinsatzes in Deutschland. Und fast genauso viele wollen den Export von in Europa nicht zugelassenen Pestiziden in andere Weltregionen verbieten." Olaf Bandt, BUND-Vorsitzender, erklärt: "Der Verlust der Artenvielfalt weltweit, aber auch in Deutschland ist dramatisch und kann nur gestoppt werden, wenn der Einsatz von Ackergiften deutlich reduziert wird. Hierzu erwarten wir gesetzgeberisches Handeln von der neuen Bundesregierung. Dabei muss die Gesamtmenge der Pestizide um 50 Prozent gesenkt und besonders gefährliche Pestizide verboten werden. Es müssen innerhalb der jetzigen Legislaturperiode konkrete Maßnahmen umgesetzt werden, um die Erfolge der Pestizidreduktion zu kontrollieren. Entscheidend dabei ist, dass die landwirtschaftlichen Betriebe dabei unterstützt werden mit weniger Pestiziden wirtschaftlich tragfähig zu arbeiten. Weniger Pestizide und mehr biologische Vielfalt auf dem Acker soll sich für alle Betriebe lohnen.“ Ein Umdenken ist nach Ansicht von Bandt dringend notwendig, denn der hohe Pestizideinsatz schade der Biodiversität. „Er trägt zum Verlust zahlreicher Nützlinge bei, ohne die wiederum noch mehr Pestizide notwendig sind. Der damit verbundene Rückgang bestimmter Wildpflanzenarten führt zum Verlust von Lebensraum und Nahrung für spezialisierte Insekten. Zudem führt der Einsatz von in geringen Mengen hochwirksamen Neonikotinoiden zum Sterben von Wildbienen", so Bandt. Und Doris Günther, Vorstand von PAN Germany, sagt: "Mit dem massiven Pestizideinsatz weltweit vergiften wir Menschen und Natur. 385 Millionen jährliche Pestizidvergiftungen weltweit sind ein Skandal. Pestizidkonzerne haben längst den Globalen Süden als neuen Wachstumsmarkt für ihre Produkte ausgemacht. Auch deutsche Firmen exportieren hochgefährliche Pestizide nach Afrika, Asien und Lateinamerika, die bei uns zum Schutze der Bevölkerung und der Umwelt verboten wurden. Diesen unhaltbaren Zustand müssen die deutsche und europäische Politik beenden und konsequent den Export verbotener Pestizide gesetzlich untersagen. Dass die neue Bundesregierung sich in ihrem Koalitionsvertrag verpflichtet hat entsprechend zu handeln, lässt hoffen." Die Zustimmung zu konsequentem Handeln hat die deutsche Politik jedenfalls von den jüngeren Generationen: Die repräsentative Umfrage unter Leitung der Universität Göttingen und Zühlsdorf & Partner für den Pestizidatlas 2022 bei der Altersgruppe der 16- bis 29-Jährigen zeigt, dass die Bundesregierung von der jungen Bevölkerung einen klaren Handlungsauftrag hat. Mehr als 70 Prozent der Befragten fordern eine deutliche Reduktion des Pestizideinsatzes in Deutschland. Sie unterstützen die Entscheidung der EU, die die Halbierung des Pestizideinsatzes bis 2030 eingeleitet hat. Mehr als 60 Prozent der Befragten sind sogar dafür die Nutzung von Pestiziden insgesamt bis 2035 zu verbieten, wenn Bäuerinnen und Bauern beim Umstieg auf eine umweltfreundliche Landwirtschaft unterstützt werden. Fast 80 Prozent der Befragten befürwortet eine stärkere finanzielle Unterstützung der Landwirtinnen und Landwirte, wenn weniger Pestizide eingesetzt werden. Bioland: Pestizideinsatz endlich deutlich reduzieren!
Anlässlich der Vorstellung des Pestizidatlasses fordert Bioland von der neuen Bundesregierung den Stillstand bei der Reduktion des Pestizideinsatzes nun endlich zu beenden. „Wir mahnen und warnen seit mehr als zehn Jahren, haben Daten zur Kontamination mit leichtflüchtigen Pestiziden gesammelt, Studien beauftragt, Lösungsvorschläge für die Behörden und Ministerien formuliert und das Thema bei den Entscheider*innen immer wieder in den Fokus gerückt – leider ohne durchschlagenden Erfolg. Das Thema Pestizidreduktion steht immer noch nicht richtig auf der politischen Tagesordnung“, bilanziert Bioland-Präsident Jan Plagge. „Wir erwarten nun von der noch jungen Bundesregierung, dass sie das Thema so ernst nimmt, wie es tatsächlich ist und wirksame Maßnahmen ergreift, durch die sich der Einsatz von Pestiziden deutlich reduziert!“ Einen ersten Dämpfer für diese Erwartung gab es allerdings bereits, bevor die Ampel-Koalition ihre Regierungstätigkeit aufgenommen hat: Eine Pestizidabgabe, die neben dem forcierten Ausbau des Ökolandbaus ein wirksames Instrument für Verringerung wäre, hatte es nicht in den Koalitionsvertrag geschafft. „Das ist absolut bedauerlich – denn eine Pestizid-Halbierung bis 2030, wie ihn die Europäische Kommission mit dem Green Deal erreichen will, wird ohne eine Abgabe in Deutschland nicht zu machen sein.“
Ein großes Problem sieht Bioland in der Abdrift von Pestiziden auf benachbarte Flächen. „Die Politik hat bisher beim Schutz von Bäuer*innen und auch Bürger*innen vor der Abdrift bestimmter leichtflüchtiger Pestizide wie Pendimethalin und Prosulfocarb leider kläglich versagt“, kommentiert Gerald Wehde, Geschäftsleiter Agrarpolitik und Kommunikation bei Bioland. Ganz verwunderlich sei das ausbleibende Engagement in diesem Bereich nicht: „Der Pestizid-Markt ist riesig und er wird nach aktuellem Stand wohl noch weiter wachsen. Dem wollten bislang die wenigsten politischen Entscheider*innen gerne im Weg stehen. Die Verzögerungstaktik der vergangenen Jahre hat also durchaus System und kommt besonders die Bio-Betriebe und -Hersteller sehr teuer zu stehen.“
Es sei absolut inakzeptabel, dass hier das Verursacherprinzip umgekehrt werde und die Betriebe, die auf chemisch-synthetische Pestizide bewusst verzichteten, die Folgekosten des Pestizideinsatzes anderer oft alleine tragen müssten. Und diese Kosten werden sich mit der neuen EU-Bio-Verordnung noch mal deutlich erhöhen, denn danach wird von jedem der 350.000 Biobetriebe in der EU ein Vorsorgekonzept zur Vermeidung von Kontaminationen gefordert. Wehde bekräftigt: „Es liegt jetzt bei der neuen Bundesregierung, dieses Thema entschlossen anzugehen und mutige sowie wirksame Maßnahmen zur Pestizidreduktion zu ergreifen - damit Bäuer*innen sowie Verbraucher*innen besser geschützt werden und die Landwirtschaft in ihrer Gesamtheit nachhaltiger wird.“ Häusling: Pestizideinsatz rasch und konsequent reduzieren
„Die EU muss rasch und konsequent ihr Ziel umsetzen, den Pestizideinsatz um 50 Prozent zu reduzieren“, erklärt Martin Häusling, agrarpolitischer Sprecher der Grünen und Mitglied im Agrar- und Umweltausschuss des Europäischen Parlaments mit Blick auf die Vorstellung des Pestizidatlasses. Die EU-Kommission habe mit der Ankündigung der Farm-to-Fork Strategie und dem darin enthaltenen Ziel, den Pestizideinsatz bis 2030 um 50 Prozent zu reduzieren, eine wichtige Weiche gestellt, um diese unhaltbare Praxis zu stoppen. Auch die EU-Richtlinie über die „nachhaltige Verwendung von Pestiziden“ steht vor einer Überarbeitung und muss sich nach Ansicht von Häusling an diesem Ziel orientieren. Überdies muss für das Totalherbizid Glyphosat über eine mögliche Verlängerung der Zulassung entschieden werden, sie endet bisher im Dezember. „Ich erwarte, dass bei diesen beiden wichtigen Prozessen sowohl das 50-Prozent-Ziel der Farm-to-Fork-Strategie als auch die gravierenden Folgen des weltweiten Pestizideinsatzes ausreichend Berücksichtigung finden. Das bedeutet auch: Keine Verlängerung der Zulassung für Glyphosat“, so Häusling. Auch mache der Pestizidatlas klar, dass die Gentechnik die versprochene Reduktion beim Einsatz von Pestiziden nicht halten kann, wie beim Anbau von gentechnisch verändertem Soja in Nord- und Südamerika deutlich wird. „Auch die Digitalisierung und das sogenannte Smart Farming werden nicht zur erhofften Entlassung für die Biodiversität werden, sondern eher die Macht der Agrarindustrie zementieren“, erklärt der EU-Abgeordnete abschließend.