„Mit dem Vorsorgeprinzip und der Generationengerechtigkeit nicht vereinbar …“

Die EU-Kommission hat Ende April 2021 einen Bericht zum „Status neuartiger genomischer Verfahren“ herausgegeben. Darin bestätigt sie die Auffassung des Europäischen Gerichtshofes, dass auch neue Gentechniken Gentechnik sind. Allerdings sei das geltende Gentechnikrecht „nicht zweckmäßig“. Die Kommission wird einen Konsultationsprozess „zur Gestaltung eines neuen Rechtsrahmens“ einleiten. Konkret könnten zukünftig viele der neuen Gentechnikanwendungen von der Regulierung nach Gentechnikgesetz ausgenommen oder ihre Regulierung stark abgeschwächt werden. Unabhängige Bauernstimme: Sehr geehrte Frau Ministerin Schulze, teilen Sie die Auffassung der EU-Kommission, die Türen für eine Deregulierung zu öffnen? Svenja Schulze: Nein, in vielen Punkten stimme ich nicht mit den Schlussfolgerungen der Europäischen Kommission überein. Dafür gibt es gute wissenschaftliche, juristische und politische Gründe. Diese werde ich in den ergebnisoffenen Diskussionsprozess um mögliche Handlungsoptionen einbringen, den die Kommission angekündigt hat. Ich bin mir sicher, dass das bestehende Rechtssystem belastbar und zukunftssicher ausgestaltet ist. Jede Schwächung des geltenden Gentechnikrechts lehne ich daher ab. Ich hielte dies vor dem Hintergrund der Herausforderungen, vor denen wir als Gesellschaft in den kommenden Jahrzehnten stehen, für grundfalsch und mit dem Vorsorgeprinzip und der Generationengerechtigkeit nicht vereinbar. Gentechnik ist in der EU ja nicht grundsätzlich verboten; Produkte können nach bestandener Risikoprüfung zugelassen, verarbeitet und angebaut werden. Mit dem BMU-Positionspapier: „Gentechnik in der Landwirtschaft: Für Wahlfreiheit und Vorsorgeprinzip“ habe ich vor wenigen Wochen Vorschläge zur Bewältigung von Herausforderungen im bestehenden Rechtsrahmen vorgelegt. Ich gehe davon aus, dass wir bald die Möglichkeit haben werden, der Europäischen Kommission unsere Punkte darzulegen. Die EU-Kommission überlegt, eine Reihe von Anwendungen der neuen Gentechniken von der Regulierung auszunehmen. Das Risikopotenzial sei ähnlich wie beispielsweise bei konventionell gezüchteten Pflanzen. Wie beurteilen Sie das aus Umwelt- und Verbrauchersicht? Als Umweltministerin lehne ich diesen Vorschlag ab. Die Sicherheit für Mensch und Umwelt kann bei Neuer Gentechnik für bestimmte Anwendungen nicht pauschal angenommen werden, z .B. bei SDN-1, SDN-2 oder Cisgenese. Es gibt noch keinen wissenschaftlich geklärten Erkenntnisstand, um die Folgen Neuer Gentechnik zu beurteilen. Es ist bei Neuer Gentechnik immer erforderlich, sich neben den Effekten durch die verwendete Technik auch das erzeugte Produkt im Detail anzuschauen. Und genau das schreibt das geltende Gentechnikrecht vor. Denn ist eine gentechnisch veränderte Pflanze einmal in die Umwelt freigesetzt, ist es nahezu unmöglich, sie wieder zurückzuholen. Die Untersuchung der Kommission lässt wichtige Aspekte der Risikobewertung außer Acht, neue Erkenntnisse werden nicht diskutiert und behandelt. So wird zum Beispiel nicht darauf eingegangen, dass bestimmte Bereiche im Genom einem natürlichen Schutzmechanismus unterliegen und nur die Neuen Gentechniken dort Zugang haben können. Oder dass beim Einschleusen der Genschere CRISPR/Cas in die Zelle standardmäßig klassische Gentechnik eingesetzt wird und es dabei immer wieder zu einem unbeabsichtigten Einbau von transgenen Genbestandteilen kommen kann. Auch Pflanzen, die durch das sogenannte Multiplexing entstanden sind, d. h. durch das wiederholte Setzen von verschiedenen Mutationen, wodurch Pflanzen mit stark veränderten Eigenschaften erzeugt werden können, würden nach der Logik des Vorschlags der Kommission als Pflanzen ohne erhöhtes Risikopotenzial betrachtet werden. Diese Beispiele zeigen: Neue Gentechnik ist und bleibt Gentechnik – eine Risikoprüfung ist erforderlich. Wie beurteilen Sie die Vorschläge der Kommission, diese Gentechnikpflanzen womöglich anders oder gar nicht zu kennzeichnen? Die Aussagen der Kommission sind hier überraschend unpräzise. Jedes Abrücken von der Kennzeichnungspflicht würde für gentechnikfrei wirtschaftende Landwirte und den ökologischen Landbau das wirtschaftliche Risiko und die Kosten für die Reinhaltung von Saatgut und Futtermitteln erhöhen. Eine gentechnikfreie Lebensmittelerzeugung wäre kaum noch möglich – damit gäbe es auch keine Wahlfreiheit für Verbraucher*innen mehr. Die EU-Kommission führt an, dass die Neue Gentechniken (NGTs) zum Erreichen der Ziele des Green Deals, der Farm-to-Fork-Strategie, der Biodiversitätsstrategie und sogar der SDGs, der globalen Nachhaltigkeitsziele, nötig wären. Diese Argumentation ist unrealistisch und wird zudem in der Untersuchung selbst schon widerlegt. Der Verlust der Artenvielfalt, der notwendige Wandel in der Landwirtschaft hin zu naturverträglicheren Strukturen und auch die Entwicklung nachhaltiger Ernährungssysteme sind enorm wichtige Zukunftsthemen, bei denen wir dringend vorankommen müssen. Deshalb müssen die Farm-to-Fork-Strategie, die Biodiversitätsstrategie und die Ziele für nachhaltige Entwicklung auch bis 2030 umgesetzt werden. Aber kann Neue Gentechnik da wirklich helfen? Die Gemeinsame Forschungsstelle (GFS) der Europäischen Kommission hat den globalen Markt für NGT-Pflanzen analysiert. Ergebnis: Aktuell ist weltweit eine NGT-Sojabohne mit einer veränderten Nährwertzusammensetzung auf dem Markt, in Japan wird zudem eine blutdrucksenkende Tomate in Privatgärten angebaut. Es wurden noch 16 weitere Pflanzen identifiziert, die bis Ende des Jahrzehnts auf den globalen Markt kommen könnten, sechs davon werden herbizidresistent sein. Das in der Untersuchung postulierte Potenzial von Neuer Gentechnik wird jedenfalls bis 2030 nicht erreicht werden. Die EU-Kommission schlägt vor, der Risikobewertung einen Nutzennachweis zur Seite zu stellen, um „Innovationen“ zu fördern. Hier müssen wir genau hinschauen: Die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten sind laut Vorsorgeprinzip grundsätzlich dazu verpflichtet, Umweltbeeinträchtigungen von vornherein zu vermeiden. Das wurde bereits mehrfach von obersten Gerichten unterstrichen, zuletzt im wegweisenden Klimaschutzurteil des Bundesverfassungsgerichts. Das geltende Gentechnikrecht setzt dieses Prinzip um, indem es eine verpflichtende Risikoprüfung vorsieht. Das ist der Rahmen für Innovation und muss es auch bleiben. Die Kommission fokussiert sich außerdem nur auf die Förderung technischer Innovation durch Genome Editing. Alternative Lösungsansätze werden dabei vernachlässigt. Der ökologische Landbau ist hoch innovativ, aber auch die Digitalisierung oder neue landwirtschaftliche und gesellschaftliche Konzepte bringen innovative Lösungen für die Nachhaltigkeit. Diese Bereiche gilt es zu fördern, denn sie können zeitnah und zuverlässig zum Erreichen der Nachhaltigkeitsziele beitragen. Die Kommission führt Probleme der Nachweisbarkeit von neuen Gentechnikorganismen als Argument für eine mögliche Deregulierung an. Wie sehen Sie das? Dass es Herausforderungen gibt, die im Hinblick auf die Nachweisbarkeit von NGT-Produkten entstehen können, kann man nicht leugnen. Allerdings wurde bislang nicht wirklich versucht, hier Lösungen zu finden. In den Mitgliedsstaaten der EU wurden nach eigenen Angaben in den vergangenen Jahren gerade einmal 1,6 Prozent der Forschungsmittel, die insgesamt für Neue Gentechnik zur Verfügung standen, für die Bereiche Risikobewertung, Nachweismethoden und Monitoring ausgegeben. Das finde ich fahrlässig wenig. Wir müssen dringend in die Biosicherheitsforschung und in Nachweisverfahren investieren. Das ist eine ganz zentrale Forderung des BMU, denn nur so lassen sich das Vorsorgeprinzip und die Wahlfreiheit wahren und die Koexistenz von gentechnikfreier und Gentechnik nutzender Landwirtschaft gewährleisten.
09.06.2021
Von: Annemarie Volling, AbL-Gentechnikexpertin

Bundesumweltministerin Svenja Schulze Foto: BMU/Zahn