Lebensmittel als Inflationstreiber – welchen Anteil hat die Landwirtschaft?

Marktbeobachtungen von Hugo Gödde

Manchmal könnte man wirklich meinen, dass wir in einer Zeitenwende leben. Die Preiserhöhungen für Lebensmittel und für landwirtschaftliche Erzeugerpreise liegen seit Monaten mit über 20% deutlich über der Inflationsrate von ca. 7%. Was ist da los? Generationen von liberalen und agrarkritischen Wissenschaftlern fußten ihre ökonomischen Theorien darauf, dass die Agrarpreise niedrig sein müssten, damit die Löhne der Arbeiter und Angestellten nicht zu sehr steigen. Ganz streng formuliert hieß das: die Agrarpreise werden unten gehalten im Interesse der Industrie bzw. des „Kapitals“.

Nun wachsen sie jedoch seit dem letzten Sommer fast dreimal so schnell wie die allgemeine Inflation – und nach Aussagen von Marktexperten wird das auch noch eine Weile bleiben. Wir sollen uns weiterhin auf höhere Lebensmittelpreise einstellen, sagen nicht nur der Bauernverband, sondern auch Ökonomen aller Couleur. Folglich spielen die Lebensmittel als „Inflationstreiber“ auch in den aktuellen Tarifkonflikten eine nicht unbedeutende Rolle.

Anstieg der Lebensmittelpreise

Nach Angaben des Statischen Bundesamtes sind die Preise bei Nahrungsmitteln im ersten Quartal um 22% gestiegen (im April um 17%), viel stärker als die Energiepreise (3,5%). Ohne Lebensmittel und Energie läge die Inflation bei 5,8%. In den vergangenen 20 Jahren (und auch davor) waren Lebensmittelpreise immer eine Inflationsbremse. Zwischen 2000 und 2019 lag die Teuerung durchschnittlich knapp unter 1,5%. Im Einzelnen stiegen im März an den Ladenkassen laut Verbraucherzentrale gegenüber dem Vorjahr

  • Milchprodukte um 35%
  • Brot und Getreideerzeugnisse um 24%
  • Fleisch und Fleischprodukte um 18%
  • Gemüse um 27% und Obst um 7%
  • Eier um 15%

Gegenüber dem Juni 2021, als die Inflation Fahrt aufnahm, so das Bundesamt, seien die Preise gar um 29,7% angezogen. Immerhin ist die Steigerungsrate seit Anfang des Jahres leicht rückläufig.

Viele Faktoren verursachen die Entwicklung, das erfährt auch jeder Landwirt auf dem Konto. Die Kosten für Energie, Dünger und Futtermittel sind hoch, Arbeitskräftemangel und Mindestlohn verteuern die Personalkosten.

Internationale Marktturbulenzen wie der Krieg Russlands gegen die Ukraine verschärfen die Lage. Lieferengpässe oder Verschiebungen, z.B. bei ukrainischem Getreide oder Speiseölen, Ernteausfällen in Südamerika (Hitzewellen), oder der Kampf um Energiemärkte (russisches Gas, Kraftstoffe, Kunstdünger) verstärken die „volatilen“ Preise.

Krisengewinner Landwirtschaft? 

Auch die landwirtschaftlichen Erzeugerpreise haben zur Steigerung beigetragen. Laut Testbetriebsergebnissen hat es im Wirtschaftsjahr 2021/ 22 einen kräftigen Einkommensanstieg gegeben – allerdings verglichen mit den schlechten Zahlen der Vorjahre. Ausgelöst durch die Energiekrise und die Verknappung von Agrarrohstoffen durch den Krieg oder durch globale Nachfrage (Milch!) verteuerten sich viele Produkte. 2022 war für viele Landwirte (außer den Schweinehaltern) kein schlechtes Jahr. Die Kosten konnten in den meisten Betriebszweigen weitergegeben werden – plus ein bisschen mehr. Aber der Wind hat sich in den letzten Monaten gedreht. Der Milchpreis bewegt sich schon wieder unter Vorjahr (und unter Vollkosten), Weizen und Futtergerste kosten kaum mehr als vor zwei Jahren. Raps liegt mit 40 €/dt sogar unter Mai 2021. Nur beim Schweinefleisch sind die Bauernpreise nach über zwei verheerenden Jahren auf ein neues Allzeithoch angestiegen, weil inzwischen so viele Schweinehalter ausgestiegen sind, dass Fleisch gesucht wird.

Selbst der Dünger (KAS, Harnstoff, AHL, außer Kornkali) ist inzwischen auf den Preis von Herbst 2021 gefallen. Nur die Futtermittelfirmen versuchen noch die Preishöhen zu halten – aber wie lange noch.

Also an den landwirtschaftlichen Erzeugerpreisen kann die aktuelle Inflationsrate nicht (mehr) liegen.

Wer ist schuld?

Schon im Dezember analysierte das Ifo-Institut, dass die Beschaffungspreise nicht der alleinige Grund für die Inflationshöhe sein können. „Vielmehr scheinen einige Unternehmen den Kostenschub auch als Vorwand dafür zu nehmen, durch eine noch stärkere Erhöhung ihrer Absatzpreise auch ihre Gewinnsituation zu verbessern.“ Die Untersuchung lässt, so das Institut, „nur den Schluss zu, dass hier offenbar viele Unternehmen die Gunst der Stunde genutzt haben, über die Verteuerung der Vorleistungsbezüge hinaus ihre Preise anzuheben und damit ihre Gewinne zu steigern.“

Auch eine Studie des Kreditversicherers Allianz Trade kommt zu einem ähnlichen Ergebnis. „Mehr als ein Drittel des jüngsten Anstiegs der Lebensmittelpreise in Deutschland“ könne nicht mit Rohstoffkosten oder Energiepreisen erklärt werden. „Manche Preissteigerungen bei Lebensmitteln sind weder gerechtfertigt noch nachvollziehbar“ belegten kürzlich die Verbraucherzentralen und fordern einen schärferen Blick des Kartellamtes auf Handel und Industrie. Besonders in Deutschland sei „der Profithunger besonders ausgeprägt,“ erläutert der Allianz-Experte mit Blick auf Europa, wo die Teuerung der Nahrungsmittel nur um 15% gestiegen ist. Und er geht davon aus, dass vor allem die internationalen Industriekonzerne die Gelegenheit nutzen, im discount- und preisgetriebenen deutschen Markt ihre Margen zu erhöhen. Das weist der Markenherstellerverband natürlich als „substanzlos“ zurück. Konsumgüterriesen wie Nestlé, Coca Cola, Unilever (Langnese, Pfanni) oder Mars (Schoko, Nudeln bis Tierfutter wie whiskas, Frolic) fühlen sich verunglimpft und verweisen auf sinkende Profite.

Auch manche Handelsexperten warnen vor einseitigen Schuldzuweisungen. Angesichts der Einkaufsmacht der vier Handelskonzernen sei der Vorwurf der Preistreiberei gegenüber den Herstellern – „außer bei den ganz Großen“ - nicht besonders überzeugend. Wenn der Handel lautstark darüber klage, gehe es ihm nicht zuletzt um die eigene Profilierung gegenüber den Verbrauchern.

Kampf zwischen Industrie und Handel

Tatsächlich ist der Streit zwischen Handel und industriellen Lieferanten heftig ausgebrochen. Besonders die Chefs von Edeka und Rewe gerieren sich als Verteidiger der Verbraucherinteressen. Dabei riskieren sie selbst Lücken in den Regalen, ein für deutsche Konsumenten seltener Vorgang (außer Toilettenpapier in Corona-Zeiten). Betroffen sind Markenprodukte u.a. von Kellogs, Coca Cola, Mars, Lipton, Miracoli oder Milka. Insgesamt haben, wie Edeka selbst einräumt, 17 große Hersteller ihre Belieferung eingestellt, bei weiteren 4 bestellt Edeka nicht mehr – zur Verärgerung der Kaufleute vor Ort, die Stress mit ihren Kunden haben.

Die Supermärkte wollen mit dem „Wucher“ nichts zu tun haben. Vor allem die internationale Food-Industrie wolle, so Edeka, auf der Inflationswelle mitreiten und „konfrontieren uns seit Monaten mit ungerechtfertigten und überzogenen Preisforderungen,“ wofür sie auch einseitige Lieferstopps verhängen.

Einzelhandel: Eigenmarken oder Herstellermarken

Angesichts der Preissteigerungen sind viele Kunden auf günstigere Lebensmittel ausgewichen – zum Nutzen der Discounter und der Handelsmarken. Der Anteil der Eigenprodukte des Handels (wie „Gut und Günstig“ usw.) stieg auf Kosten der klassischen Herstellermarken. Erstaunlicherweise sind aber die Preise der Eigenmarken des Handels stärker angezogen als die Markenprodukte. Der LEH hat sich also seine gute Marktstellung in diesen Zeiten ordentlich honorieren lassen. Und die Industrie kann bereuen, dass sie seit langem gute Produkte unter dem Namen des Handels preiswerter anbietet oder anbieten muss.

Im Einzelnen fehlt es an Transparenz des Marktes, wer der Gewinner der Inflation ist. Aber es gibt genügend Konzerne, so eine Studie des britischen Ökonom Paul Donovan von der Schweizer Großbank UBS, die von der „Gierflation“, wie er sie nennt, profitieren. Die Erzählung der Supermärkte, dass die Kosten der Landwirtschaft die Preise getrieben hätten, hält er für ein Inflationsmärchen. „Unsere Recherche war eindeutig: der Preis von Lebensmitteln hat sehr wenig mit dem zu tun, was Landwirte verlangen und erhalten. Die großen Kostenpunkte im Einzelhandel sind Arbeitskräfte, Verkaufsflächen, Werbung und Vertrieb. Mit unserer Analyse konnten wir beweisen, das höhere Preise im Supermarkt nicht mit steigenden Kosten in der Landwirtschaft gerechtfertigt werden können.“

Der Marktbeobachter kann nur Landwirt:innen und Verbraucher:innen empfehlen, sich das Gebaren der Abnehmer und des Handels sehr genau anzuschauen. Die guten, ja Rekord-Bilanzergebnisse von Westfleisch („raus aus den roten Zahlen“), DMK, Südzucker („Prognose deutlich übertroffen“), Agrarvis („doppelt so hoher Ertrag“), Baywa („außerordentlich gutes Abschneiden“) und RWZ („sehr gut verdient“), von Yara, Kali+Salz AG, von BASF-Agrar (nach Steuern deutlich über Vorjahr), Bayer und Syngenta, von Getreidehändlern wie ADM oder Cargill, von Landtechnikkonzernen und vielen anderen in den so bejammerten Krisenjahren sollten nachdenklich machen. Und die vier großen Handelskonzerne beschweren sich, dass sie aktuell nicht solche Riesengewinne machen wie in den Corona-Jahren. Den gegenwärtigen Absatzrückgang wollen sie jedenfalls auf Kosten des Einkaufs bei den Landwirten ausgleichen. Und dann haben auch wieder die Ökonomen recht, die niedrige Agrarpreise als systemrelevant und „normal“ bewerten.