(Neue) Realitäten auf dem Schweinemarkt?

Auch wenn Tönnies seit letzter Woche in Europas größtem Schlachthof in Rheda- Wiedenbrück wieder annähernd voll schlachten darf und sich der „Schweinestau“ nicht weiter aufbaut, verschlechtert sich die Lage der Schweinehalter immer weiter. Am Mittwoch wurde der Schweinepreis noch einmal um 8 ct/kg auf 1,19 €/kg gesenkt – der niedrigste Preis seit 19 Jahren. Diese Woche folgt der Ferkelpreis, der um 5 € auf unglaubliche 22 € je 25 kg Ferkel zurückgesetzt wird. Die Wut der Bauern macht sich Luft mit Aktionen vor Schlachthöfen und Häusern der Einzelhandelskonzerne. „Schluss mit lustig“ heißen die Aktionen, mit denen man Forderungen übergeben hat. Der Lebensmittelhandel findet die Aktionen eher lustig und völlig unrealistisch, wenn man der Lebensmittelzeitung glauben darf. „Bauern spielen Wünsch-dir-was“, heißt es dort. Höhere Preise seien eine „Realitätsverweigerung“. Aber den Bauern sei „mit rationalen Argumenten nicht beizukommen.“ Zwar hätten alle – ob Industrie oder Handel – Verständnis für die Lage der Bauern. Aber man könne nichts machen, äußern sich Westfleisch oder Tönnies. Sie würden nicht einmal ihren Spielraum gegenüber den Erzeugern ausnutzen, aber auch ihnen seien die Hände gebunden. Management und Ehrenamt der Großgenossenschaften Westfleisch und DMK, die ebenfalls angegriffen wurden, handelten “im klaren Wissen um die Lage der Erzeuger“, schreiben sie in einer gemeinsamen Stellungnahme. Man könne die Forderungen „sehr gut nachvollziehen“, aber eine spürbare Erhöhung sei eben unmöglich. Umsatzrekorde im Handel
Dabei kann gerade der Lebensmitteleinzelhandel, wie die Marktforscher der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) ermittelt hat, durch die Corona- Krise ständig neue Rekorde feiern. Von 10% bis teilweise 15% Umsatzplus für Obst und Gemüse oder Fleisch ist die Rede. Vor allem bei Fleisch sind die Erzeugerpreise drastisch eingebrochen, während die Verbraucherpreise sich kaum änderten. Die Margen auch in der Industrie führen zu glänzenden Augen, wenn man nicht im Außer- Haus- Geschäft zu sehr betroffen ist. Trotz – oder wegen – Corona schreiben viele Unternehmen tiefschwarze Zahlen. Die zusätzlichen Corona- Kosten (Abstände, Tests, Auflagen, erhöhte Logistik usw.) werden weitergegeben. Die Leidtragenden sind die Erzeuger, die die Marktverwerfungen tragen müssen. Die Schweinemäster (ähnlich auch die Rindfleischerzeuger) verlieren an jedem Schwein 15 bis 20 €. Wie meistens trifft es die Sauenhalter noch schlimmer. Sie legen bei jedem Ferkel mindestens 30 € zu. Bei einer durchschnittlichen Erzeugung mit 250 Sauen und 7000 Ferkel/ Jahr summiert sich das auf etwa 17.000 € - im Monat (!).
Der Interessensverband ISN beziffert die Verluste der Schweinebranche auf 1,2 bis 1,5 Mrd. €. Chinaboom am Ende – Exportabhängigkeit bleibt fatal
Und der Export bringt keine Entlastung. Seit der Sperrung des chinesischen Marktes wegen der Afrikanischen Schweinepest für Deutschland und inzwischen auch für Dänemark schieben sich die Fleischmengen in Europa hin und her und setzen sich gegenseitig unter Preisdruck – zu Lasten des schwächsten Marktteilnehmers, der Erzeuger. Von Spanien, Italien bis Niederlande und Dänemark fallen die Schweinepreise. Die Bauern zahlen für die Orientierung auf den Weltmarkt und die Abhängigkeit vom Export nach China. Systemwechsel überfällig
Dass ein Systemwechsel des „Schweinesystem“ überfällig ist, stellte sogar die Branche auf dem Deutschen Fleischkongress fest, nachdem sie sich lange Zeit vehement gesperrt hatte. Inzwischen wird der Kurs der Borchert- Kommission breit unterstützt. Aber bei den Details wird noch heftig für den eigenen Vorteil gekämpft. Und was sagen die Bauernfunktionäre: Durchhalten, ab dem Frühjahr wird es besser.
Nur ist zu fürchten, dass sich bis dahin viele Schweinehalter verabschiedet haben. Gerade auch bäuerliche Betriebe, die für den Umbau der Tierhaltung unbedingt benötigt werden. Jetzt rächt sich, dass Politik, Bauernverband und Fleischbranche solange gebremst haben. Der Systemwechsel zur Tierwohlabgabe im Sinne der Borchert- Kommission wird teuer, aber die aktuelle Schweinesystemkrise ist jetzt schon viel teurer, ohne einen Nutzen zu bringen.
23.11.2020
Von: hg

Schweine im Wartestall im Schlachthof bei Tönnies. Foto: Tönnies