EU-Kommissions-Veranstaltung zeigt strittige Positionen zu neuen Gentechnik-Verfahren

Einen Tag lang wurde auf der High-Level-Konferenz der EU-Kommission: „Modern Biotechnogies in Agriculture“ über neue Gentechniken (NGT) diskutiert. Gesundheits-Kommissarin Stella Kyriakides erklärte in ihrem Eröffnungs-Statement, dass ihrer Meinung nach neue Gentechnik-Verfahren ein Teil der Innovationen sei, um die Ziele der Farm to Fork zu erreichen. Entsprechend sollten Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit nachhaltige Innovationen auch nutzbar seien. Zuvor hatte die EU-Kommission im April 2021 einen Bericht zum Status der neuen Gentechniken veröffentlicht und im September 2021 eine vorläufige Folgenabschätzung. Darin eröffnet die Kommission einen Gesetzgebungsprozess für die meisten der neuen Gentechnik-Anwendungen. Defacto hieße das, dass sie einen Großteil der neuen Gentechnik-Anwendungen aus der derzeitigen Regulierung durch das EU-Gentechnik-Gesetz ausnehmen würden. Befürchtet wird eine Deregulierung. Dem widersprach Kyriakides auf Nachfrage und verneinte, dass die Kommission eine Deregulierung beschlossen hätte. Die Kommission werde in der anstehenden Folgenabschätzung verschiedene Optionen prüfen. Ziel sei es, die hohen Lebensmittel-Standards der EU zu bewahren. Wie sie das erreichen will, erläuterte die Kommissarin nicht. In der anschließenden lebhaften Diskussion wurden die unterschiedlichen Positionen deutlich. So äußerte sich Anja Hazekamp, Berichterstatterin des Umweltausschusses im EU-Parlament für die Farm-to-Fork-Strategie, kritisch zu den neuen Gentechnik-Verfahren. Laut der Niederländerin ist derzeit nicht hinreichend untersucht, inwieweit NGT möglicherweise doch Risiken mit sich bringen könnten. Mit Blick auf das aktuelle EU-Gentechnik-Recht vertrat Hazekamp die Ansicht, dass es, anders als von der Kommission geplant, keiner Änderungen bedürfe. Man brauche umfassende Risikobewertungen aller neuen Gentechniken, die Daten seien zu veröffentlichen, so dass auch unabhängige Wissenschaftler:innen sie bewerten könnten. Zudem brauche es klare Kennzeichnung und Rückverfolgbarkeit, um Wahlfreiheit zu ermöglichen. Dr. Riccarda Steinbrecher, Vorstandmitglied vom European Network of Scientists for Social and Environmental Responsibility (ENSSER) erklärte, dass die Wissenschaft mitnichten einheitlicher Meinung sei, was die Bewertung der neuen Gentechnik-Verfahren angehe. Der EuGH hätte bestätigt, dass auch durch die neuen Verfahren entstehende Organismen GVO seien. Diese neuen Technologien bergen Risiken, die es zu untersuchen gelte. Einfach Gruppen herauszunehmen, sei unwissenschaftlich. Auch sei der postulierte Nutzen vieler NGT bisher noch kaum hinreichend dargelegt. Gentechnik-Deregulierung stoppen!
Heike Moldenhauer, Generalsekretärin der ENGA (European Non-GMO Industry Association) vertrat die Interessen der gentechnikfreien Wirtschaft auf einem Panel der Konferenz. Sie erklärte: „Verbraucherinnen und Verbraucher in der EU wollen keine Gentechnik im Essen, das gilt für alte genauso wie für neue Gentechnik. Das ignoriert die EU-Kommission bisher völlig. Bei neuer Gentechnik verweigert sie ein Bekenntnis zu Transparenz und Wahlfreiheit. Die Risikobewertung für das Gros mit neuer Gentechnik erzeugter Pflanzen will sie ganz abschaffen. Risikobewertung ist für den Lebensmittelhandel aber essenziell, denn er ist für die Sicherheit seiner Produkte verantwortlich und haftbar. Genauso wichtig ist eine Gentechnik-Kennzeichnung, denn nur sie gewährleistet Kontrolle über die Warenketten und die Wahlfreiheit. Die Kommission muss ihre Deregulierungspläne für neue Gentechnik umgehend stoppen, im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher und großer Teile des europäischen Lebensmittelhandels, der sich in einer Resolution klar für die Beibehaltung der geltenden Gesetzgebung ausspricht.“ Neue Gentechniken sind keine Lösung!
Auch Bioland-Präsident Jan Plagge war auf einem Panel vertreten. Er kommentierte: „Neue Gentechniken wie CRISPR/Cas werden häufig als große Hoffnungsträger angesehen, die viele Probleme in der Land- und Ernährungswirtschaft auf einmal lösen: Sie sollen zur Ernährungssicherung, zum Erhalt der Artenvielfalt und zur Klimaanpassung der Landwirtschaft beitragen. Aber das ist ein großer Fehler, die Erwartungen an diese neuen Gentechniken sind unrealistisch und basieren größtenteils auf reinen Annahmen. Außerdem lenken sie davon ab, dass wir an ganz anderen Stellen im Agrar- und Ernährungs­sys­tem ansetzen müssen: Für umwelt-, arten- und klimafreundliches Essen und Ackern brauchen wir vielmehr einen echten Systemwechsel. Sich mit so vielen Ressourcen auf die Agro-Gentechnik zu konzentrieren bedeutet, die Dinge zu vereinfachen, indem man nur Ausschnitte der Probleme betrachtet. Zudem sind Gentechniken – und das schließt neue Methoden ausdrücklich mit ein – mit erheblichen Risiken für Organismen, die Stabilität der Ökosysteme und unsere Lebensgrund­lagen verbunden. Umso wichtiger bleibt eine strenge Regulierung mit Risikoprüfung und auch transparenter Kennzeichnung, damit sowohl Landwirt:innen als auch Verbraucher:innen er­ken­nen, an welcher Stelle der Nahrungsmittelkette gentechnisch veränderte Organismen eingesetzt wurde.“ Bedenken der Bürger und bereits bewährte landwirtschaftliche Lösungen für den Klimawandel werden abgetan
Friends of the Earth Europe kritisierte, dass die Bedenken der Bürger:innen von der EU-Kommission nicht ernst genommen würden. Mehr als 69.000 Bürger:innen hätten der Europäischen Kommission während der vierwöchigen Konsultation im Oktober 2021 mitgeteilt, dass sie die Deregulierung neuer GVO ablehnen und die Anwendung der bestehenden europäischen GVO-Sicherheits- und Kennzeichnungsvorschriften fordern. Zudem hätten 161 Organisationen der Zivilgesellschaft, der Landwirte und der Wirtschaft gefordert, dass diese neue Generation von GVO weiterhin als GVO reguliert wird. Ferner forderten Minister:innen aus Österreich, Deutschland, Ungarn und Luxemburg klare Sicherheitsprü­fungen, Kennzeichnung und die Anwendung des Vorsorgeprinzips auf neue GVO – so die Umweltorganisation. Mute Schimpf, Kampagnenleiterin für Ernährung und Landwirtschaft bei Friends of the Earth Europe, sagte: „Die Pläne der Europäischen Kommission sehen aus wie ein Wunschzettel der Biotech-Indus­trie. Die Entscheidungsträger dürfen nicht darauf hereinfallen und müssen diesen Versuchen Einhalt gebieten, neue GVO ohne Sicherheitsprüfungen und Kennzeichnung auf unsere Felder und unsere Teller zu bringen. Wenn wir den falschen Versprechungen der Agrarlobby nachgeben, würde Europa Jahrzehnte des Vorsorgeprinzips zunichte machen. Die Kommission und die europäischen Minister müssen sich dringend darum kümmern, unser Agrarsystem nachhaltiger zu gestalten, indem sie die industrielle Landwirtschaft auslaufen lassen und echte und bereits bewährte Lösungen wie die Agrarökologie fördern."
30.11.2021
Von: av

Bildquelle: Europäische Kommission