Weltweit ist die Zahl der Hungernden im vergangenen Jahr auf fast 690 Millionen Menschen gestiegen, zehn Millionen mehr als 2018. Damit bleibt der globale Trend des Anstiegs der Hungernden in den letzten fünf Jahren weltweit bestehen. Das geht aus dem jetzt veröffentlichten
UN-Welternährungsbericht hervor. Die Corona-Krise, sowie Heuschreckenplagen in Indien und Pakistan sowie in Ostafrika dürften nach Ansicht der Autoren die globale Ernährungslage weiter verschlechtern. "Die Situation kann sich nur verschlimmern, wenn wir nicht dringend handeln", erklären die fünf Herausgeber des Berichts: Die Welternährungsorganisation FAO, das Kinderhilfswerk UNICEF, die Weltgesundheitsorganisation WHO, der Hilfsfonds IFAD und das Welternährungsprogram WFP. „Das ist ein Weckruf für die Weltgemeinschaft, unser globalisiertes Ernährungssystem endlich zu reformieren, sonst ist das UN-Nachhaltigkeitsziel 2 (SDG2) nicht mehr zu erreichen“, fordert Pirmin Spiegel, Hauptgeschäftsführer des Bischöflichen Hilfswerks Misereor.
Knapp 9 Prozent der Weltbevölkerung hungert und rund 2 Milliarden Menschen sind von Ernährungsunsicherheit betroffen. Das ist ein Viertel der Weltbevölkerung. „Das ist untragbar“, so Spiegel. „Diese Menschen hungern, weil sie arm sind. Weil ihre Äcker zu klein und Böden unfruchtbar werden. Weil ihr Land geraubt wurde oder sie von ihm vertrieben wurden. Weil Getreide angebaut wird, um Tiere zu füttern und mehr Fleisch zu produzieren, statt vielfältige Lebensmittel für den lokalen Markt. Weil der Klimawandel mit Dürren, Stürmen und Überschwemmungen immer häufiger Ernten vernichtet. Weil Billigimporte Märkte in armen Ländern zerstören. Weil Nahrungsmittel Spekulationsobjekte sind. Und weil globale Lieferketten Abhängigkeiten schaffen.“
Corona-Krise macht Schwächen des Ernährungssystems sichtbar
Der UN-Bericht geht davon aus, dass die Covid-19-Pandemie bis zu 130 Millionen weitere Menschen in Hungergefahr bringt. Spiegel macht deutlich: "Jetzt, in der Corona-Krise, zeigen sich die Schwachstellen des weltweiten Ernährungssystems mit dramatischer Deutlichkeit. Es ist ein System, das am Profit orientiert und auf Wachstum ausgerichtet ist, das die Armen noch ärmer macht und die Erde gnadenlos zerstört."
Vielfach sind es kleinbäuerliche Familien, die von Armut und Hunger bedroht sind, weil sie nicht sich und ihre lokale Gemeinschaft versorgen, sondern ausgewählte Feldfrüchte (Cash Crops) und Produkte für einen fernen, abstrakten Markt erzeugen, um ein Einkommen zu erwirtschaften, mit dem sie nicht oder kaum ihr eigenes Überleben sichern können. Durch die Corona-Pandemie werden viele Vermarktungswege unterbrochen. Lokalen Märkten fehlt es zu oft an politischer Unterstützung. Einkommensverluste führen in armen Haushalten jedoch unmittelbar zu Ernährungsunsicherheit.
UN-Nachhaltigkeitsziel 2 (SDG 2) - Ende des Hungers weltweit
"Wir brauchen eine Wiederbelebung lokaler Produktions- und Wirtschaftskreisläufe, um globalen Abhängigkeiten zu entkommen", fordert Spiegel. „Wenn wir das SDG 2 noch erreichen wollen, ist ein Weiter-wie-bisher keine Option.“ Um eine gute Ernährung für alle zu ermöglichen, müsste weitaus stärker als bisher auf so genannte holistische Ansätze wie die Agrarökologie gesetzt werden. Diese zielen zum Beispiel darauf, dass sich Gemeinschaften aus lokal verfügbaren Ressourcen selbst versorgen können. Und dass Lebensmittel im Einklang mit der Natur erzeugt werden, um dem Klimawandel gegenüber möglichst widerstandsfähig zu sein.
"Angesichts drohender Hungersnöte, die durch die Corona-Pandemie und Klimaextreme beschleunigt werden, sollte sich die Bundesregierung in allen relevanten Politikfeldern für eine Transformation der Ernährungssysteme einsetzen - basierend auf dem Menschenrecht für angemessene Nahrung und den Prinzipien der Agrarökologie, in denen sich solidarische Formen von Landwirtschaft anzeigen." Auch der UN-Bericht macht die Notwendigkeit der Transformation deutlich: drei Milliarden Menschen können sich keine ausreichend gesunde Ernährung leisten. Die FAO benennt unter anderem die fehlende Vielfalt im Anbau, Herausforderungen in den Lieferketten und Handelspolitik als Kostentreiber.
Misereor-Projektarbeit in der COVID19-Krise
Viele Gemeinschaften weltweit besinnen sich laut Misereor in der aktuellen Krise auf ihre eigenen Ressourcen und haben den Wert von lokalen Ernährungssystemen wiederentdeckt. So unterstützen zum Beispiel Misereor-Partner in Indien und auf den Philippinen Kleinbauern und Bäuerinnen darin, prioritär wieder für den lokalen Bedarf zu produzieren. Viele Arbeitsmigrant*innen, die in Folge der Pandemie heimgekehrt sind, wünschen sich, künftig ihr Einkommen vor Ort zu erwirtschaften. Verloren gegangene Traditionen wie die der 'solidarischen Bauerngruppen', auf den Philippinen "Bayanihan" genannt, werden wiederbelebt. Ihr Sinn ist es, gemeinsam durch Krisenzeiten zu kommen und sich gegenseitig zu unterstützen. Wichtig ist, dass sie zunächst ihre eigene Versorgung und die ihrer lokalen Gemeinschaften sichern und erst dann auf entlegenere Märkte streben.