Jahrzehntelang waren die Niederlande Sehnsuchtsort der deutschen Schweinebauern und Berater. Reisen dorthin waren Exkursionen in die Zukunft der Tierhaltung. Auch ich habe in den 60ern an einer solchen Reise teilgenommen. Es war eine Begegnung der zweiten Art, zur dritten fehlten uns die Aliens. Ställe auf Gülle mit langen Reihen angebundener Sauen waren ein völlig ungewohntes Bild. Zu Hause wurde dann der Zollstock das wichtigste Betriebsmittel, um in den eigenen Ställen auszumessen und zu prüfen, wie sie umgebaut werden könnten. Es dauerte Jahre, bis ich in meinen Ställen mit fester Fläche und Stroheinstreu Güllekanäle ausgebuddelt hatte und auch meine Sauen angebunden in der Reihe standen. Rückblickend und die Gruppenhaltung der Tiere vor Augen, war das der größte Irrtum in meiner Schweinehalterbiographie. Jedoch hat ein jegliches seine Zeit. Es wurde getan, was in der klassischen Marktwirtschaft unabdingbar und üblich ist: innerhalb der gesetzlichen Rahmenbedingungen bzw. dessen, was mindestens nicht verboten ist, die Kosten zu minimieren.
2015 erschien das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium mit der ultimativen Aussage, dass „die bestehenden Haltungssysteme in der Tierhaltung“ nicht zukunftsfähig sind. Eine Zeitenwende wurde eingeleitet. Zugleich wurden erhebliche Kosten für den Umbau beziffert, ohne letztlich zu klären, woher die notwendigen Finanzmittel kommen sollten.
Zum 1. April 2019 wurde von Ministerin Julia Klöckner ein Gremium einberufen, um die anstehenden Probleme der Nutztierhaltung zu lösen. Eingeladen waren in großer Breite Vertreter fachlicher und umweltpolitischer Organisationen. Als Vorsitzender wurde der ehemalige Landwirtschaftsminister Jochen Borchert berufen. Anders als bei vielen vorherigen Gesprächsforen gelang es innerhalb von zehn Monaten, ein von breiter Zustimmung getragenes Finanzierungskonzept zu entwickeln. Der Kommentator einer Fachzeitung verglich Borchert bereits mit Alexander dem Großen, der den gordischen Knoten löste. Kurzgesagt liegt dem Finanzierungskonzept der Borchert-Kommission die Erkenntnis zugrunde, dass die klassische Marktwirtschaft ihre externen Kosten nicht auffangen kann, auch nicht die ökologischen und die Tierwohlkosten. Vorgeschlagen ist eine am „Point of Sale“ erfasste Tierwohlabgabe, um damit die Mehrkosten von mehr Tierwohl auszugleichen. Der Ball der Umsetzung liegt jetzt im Spielfeld der parlamentarischen Strukturen und der beteiligten Verbände.
Auffallend ist, dass sich besonders Bauern auf Versammlungen mit dem „Borchert-Konzept“ schwer tun. Es scheint so, als ob die Ablehnung staatlich organisierter Geldzahlungen und die reine Marktlehre in den Genpool der jüngeren Bauerngenerationen eingewandert sind. Selbst die Nutznießer der EEG-Umlage zeichnen sich z. T. durch konsequente Ablehnung aus. Bestenfalls wird die „Initiative Tierwohl“ gelobt. Mit ihr wird das Gefühl verbunden, dass ausschließlich der Markt den, wenn auch geringen, Mehraufwand entlohnt. Leider haben diese langfristig ungesicherten Zahlungen von Aldi, Lidl & Co. den Charakter eines Gnadenaktes.
Im Borchert-Konzept wird darauf hingewiesen, dass sich in jedem Fall die Haltungsbedingungen erheblich ändern werden. Entweder ist es eine fachlich begleitete und finanziell ausgestattete Entwicklung, oder Gerichte erzwingen zunehmend ordnungsrechtliche Maßnahmen. Freilich sind über Ordnungsrecht Mindeststandards zu definieren. Ihm aber allein die Gestaltung zukunftsfähiger Haltungsbedingungen zu überlassen, wenn auch abgemildert durch Übergangsregelungen, führt zwangsläufig zu einem heftigen Strukturwandel.
Im Papier der Borchert-Kommission sind auf einer Zeitschiene Ziele mit Kriterien vorgegeben. Danach lässt sich ein neuer Stall u. U. schnell errichten. Die weitaus größte Anzahl der Betriebe muss jedoch für Stroheinstreu und Außenklima unter Berücksichtigung von Baurecht, Statik, Brandschutz usw. umbauen. Für mich ist der Zollstock wieder ein wichtiges Betriebsmittel geworden, aber nur zum Planen. Den Presslufthammer mögen Jüngere bedienen. Ich betreue meinen Laufstall für die Sauen mit Ferkeln. Gern zeige ich ihn Besuchern. Sind Niederländer unter ihnen, verspüre ich etwas von einer Revanche und klammheimliche Freude.
Ein jegliches hat seine Zeit (Der Prediger Salomon, Kap. 3) … abbrechen und bauen hat seine Zeit.