„Das Echo der zwölf Artikel hallte durch die Jahrhunderte“

Interview mit Historikerin Susanne Anwander über die Geschehnisse vor 500 Jahren und der Blick von heute:

Unabhängige Bauernstimme: Frau Anwander, Sie sind Ethnologin und Historikerin und seit fast 20 Jahren wissenschaftliche Mitarbeiterin und Ausstellungskuratorin im Bauernkriegsmuseum Leipheim/Schwaben. Sie waren beteiligt an der Konzeption der aktuellen Wanderausstellung der dreizehn deutschen Bauernkriegsmuseen zum 500-jährigen Gedenkjahr. Wie ist das Interesse am Besuch der Ausstellung und Führungen?

Susanne Anwander: Es gab eine überraschend große Nachfrage nach Gruppenführungen, viele Einzelbesuche und jede Woche etwa ein bis zwei Medienanfragen. Leipheim ist das einzige bayerische Museum dieser Art, daher wohl das große Interesse. Hier fand die erste große Schlacht des Bauernkriegs statt.
Der Bauernkrieg ist untrennbar verbunden mit den in Memmingen im März 1525 von einem Bauernparlament verabschiedeten zwölf Artikeln, die als erste Formulierung der Freiheits- und Menschenrechte gelten. Welche dieser Forderungen an die Obrigkeit sind aus Ihrer Sicht heute noch relevant bzw. noch nicht umgesetzt?

Ein Vergleich ist sehr schwierig, weil sich die Gesellschaftssysteme so extrem unterscheiden. Wir können einen Rechtsstaat mit parlamentarischer Demokratie nicht mit einem absolutistischen Kaiserreich mit Ständeordnung vergleichen. Es herrschte ein „Korsett von Zwängen“ religiöser und gesellschaftlicher Natur, auch für den Adel. Die Religion hatte einen Stellenwert, den wir heute nur erahnen können. Eine Eins-zu-eins-Umsetzung der zwölf Artikel ist gar nicht möglich. Wenn wir heute z. B. den vierten Artikel, die Forderung nach freier Jagd und Fischerei, umsetzen würden, führte das sehr schnell zu absolutem Chaos. Hier muss ein Staat regulierend eingreifen. Andere Forderungen, vor allem in Richtung Rechtssicherheit und Rechtsstaatlichkeit sowie persönliche Freiheit, sind in unserer Verfassung umgesetzt. Die Leibeigenschaft, eine zentrale Forderung der Bauern, ist in Deutschland abgeschafft. In anderen Teilen der Welt existiert sie noch als Schuldknechtschaft oder sexuelle Sklaverei. Den letzten Artikel, der besagt, wenn nachgewiesen werde, dass eine Forderung der Heiligen Schrift widerspräche, so solle sie nicht gelten, würden wir heute als „Disclaimer“ bzw. „Haftungsausschluss“ bezeichnen. Er ist ein brillanter Schachzug, in dem man sich auf eine Autorität beruft, die auch die Gegenseite bejaht, und signalisiert, dass man Verhandlungen will und zum Diskurs einlädt.  

Warum gab es keine größeren Aufstände in den nördlichen Regionen des deutschsprachigen Raums? In Westfalen kamen z. B. nach Landeshistoriker Werner Freitag einige Gründe dafür zusammen: feste Verwurzelung im Katholizismus, trotz Leibeigenschaft erbberechtigter Hofbesitz, Mitspracherecht der Bauern bei Markenordnungen und -gerichten.

Tatsächlich glich das Reich einem Fleckenteppich und war kein einheitliches Gebilde. Die klimatischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse waren z. T. sehr unterschiedlich.  Im nördlichen Niedersachsen blieben z. B. mit der „Friesischen Freiheit“ frühmittelalterliche Stammesstrukturen ohne Feudalismus und mit flacher Hierarchie bis nach dem Mittelalter bestehen. Hier gab es keinen Grund, sich aufzulehnen. Auch die von Ihnen erwähnten Verhältnisse in Westfalen waren eben ganz anders als z. B. im süddeutschen Raum, wo u. a. Missernten und Wirtschaftskrisen das gesellschaftliche Gefüge im 16. Jh. destabilisierten.

Die Stadt Memmingen schreibt, dass die Obrigkeit nach 1525 aus Furcht vor neuen Eskalationen doch zum Entgegenkommen bereit war. In einigen Territorien wurden durchaus Verbesserungen für die Bauern erreicht. Es ist also nicht alles umsonst gewesen, oder?

Weder die Auslöser bzw. Ursachen noch die Folgen der Aufstände waren flächendeckend gleich. Auch im Süden mündete nicht jeder Aufstand in eine militärische Auseinandersetzung. Der Heerführer des Schwäbischen Bundes, Georg von Waldburg, der sogenannte „Bauernjörg“, ging als Stratege in der ersten Schlacht bei Leipheim schonungslos vor, um den Gegner zu demoralisieren. Am Bodensee zog er Verhandlungen vor, weil der „Seehaufen“ sehr groß und militärisch gut geführt war.
Auch lokal gab es Unterschiede: So formierte sich bei Leipheim ein gewalttätiger Bauernhaufen, während sich ganz in der Nähe im Kloster Wettenhausen Bauern mit dem Probst vertraglich einigten. Mancherorts wurden wirklich Verbesserungen bei Frondiensten und Abgaben erreicht. Im Rückblick auf 500 Jahre war sicher nicht alles umsonst gewesen.

Der Historiker Professor Peter Blickle spricht von der „Revolution des Gemeinen Mannes“. Die „zwölf Artikel“ der Bauern verknüpft er mit der „Erklärung der Menschenrechte“ in der Französischen Revolution. Teilen Sie diese Sichtweise?

Das Verdienst Peter Blickles war es, die sozial- und rechtsgeschichtlichen Aspekte des Bauernkrieges zu fokussieren. Die zwölf Artikel gelten heute nicht nur als erste europäische Menschenrechtscharta, sondern auch als grundlegend für die Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit. Die zwölf Artikel waren nicht die Eins-zu-eins-Vorlage für die Ideen der Französischen Revolution, aber die Ideen haben sich dort ebenso niedergeschlagen wie in der 1776 verabschiedeten Grundrechteerklärung Virginias, ein Vorbild für die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, oder auch in der UN-Menschenrechtscharta von 1948. Das „Echo der zwölf Artikel“ hallte also durch die Jahrhunderte.

Kann man die damalige Situation mit der Gegenwart vergleichen, lassen sich Erkenntnisse ableiten, die für Bauern heute noch Bedeutung haben?

Das Schwierigste ist, sich in die Denkweise von damals hineinzuversetzen. Adel und Kirche glaubten tatsächlich, dass die Machtverhältnisse und sogar die Not der Bauern „gottgewollt“ seien. Widerstand dagegen – auch mit Worten – war also eine Auflehnung gegen die göttliche Ordnung und wurde entsprechend hart bestraft. Im heutigen Rechtsstaat haben wir die freie Meinungsäußerung und juristische Mittel zur Verfügung, um unsere Anliegen zu kommunizieren und durchzusetzen. Wenn uns die Geschichte seit dem Bauernkrieg eines gezeigt hat, dann, dass Gewalt niemals eine Lösung sein kann.

Vielen Dank für das Gespräch!

23.10.2024
Von: Andrea Eiter, AbL Bayern

Historikerin Susanne Anwander, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Ausstellungskuratorin im Bauernkriegsmuseum Leipheim/Schwaben