Wissenschaft anlässlich des Ukraine-Kriegs: Von grünerer Agrarpolitik nicht abrücken

Eine Gruppe von mehr als 400 internationalen Wissenschaftsler:innen hat mit Blick auf den Ukraine-Krieg die Entscheider und Entscheiderinnen in der Agrarpolitik aufgefordert, nicht von einer nachhaltigeren Landwirtschaft abzurücken, nur um die Getreideproduktion zu steigern.

Der Krieg in der Ukraine wirkt sich auf das weltweite Nahrungsmittelsystem aus, zusätzlich zu der direkten humanitären und sicherheitspolitischen Krise durch die russische Aggression. Die Ukraine und Russland sind wichtige Erzeuger von Getreide und Düngemittel, doch ihre Exporte drohen unterbrochen zu werden oder sind bereits unterbrochen. Die Entscheider und Entscheiderinnen in der Agrarpolitik - wie die EU-Agrarministerinnen und -minister - sollten jedoch nicht abrücken von einer nachhaltigeren Landwirtschaft, nur um die Getreideproduktion zu steigern, argumentiert ein Team von Forschenden in einer gemeinsamen Erklärung.

“Die weltweite Ernährungsunsicherheit wird nicht durch eine Einschränkung des Nahrungsmittelangebots verursacht. Sie wird durch ungleiche Verteilung verursacht. Es gibt mehr als genug Nahrungsmittel, um die Welt zu ernähren, auch jetzt bei diesem Krieg. Allerdings wird das Getreide an Tiere verfüttert, als Biokraftstoff verwendet oder einfach verschwendet, anstatt hungrige Menschen zu ernähren", so Sabine Gabrysch, Forscherin am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) sowie an der Charité Berlin, eine der Mitautorinnen. “Jetzt Umweltvorschriften aufzuweichen, um die Lebensmittelproduktion zu steigern, würde die Krise nicht lösen. Es würde uns vielmehr noch weiter von einem robusten Ernährungssystem entfernen, das gegen künftige Schocks gewappnet ist und eine gesunde und nachhaltige Ernährung ermöglicht.”

In der Erklärung schlagen die Forschenden drei Hebel vor, um die kurzfristigen Schocks zu bewältigen und gleichzeitig die menschliche Gesundheit und eine langfristige nachhaltige Entwicklung zu gewährleisten:
1. Beschleunigung der Umstellung auf eine gesündere Ernährung mit weniger tierischen Erzeugnissen in Europa und anderen Ländern mit hohem Einkommen, wodurch sich die für Tierfutter benötigte Getreidemenge verringern würde;
2. Steigerung der Produktion von Hülsenfrüchten und weitere Ökologisierung der EU-Agrarpolitik, auch um die Abhängigkeit von russischem Stickstoffdünger und Erdgas zu verringern;
3. Verringerung der Lebensmittelverschwendung, da beispielsweise die Menge an vergeudetem Weizen allein in der EU etwa der Hälfte der Weizenexporte der Ukraine entspricht.

Weitere kurzfristige Maßnahmen der europäischen Regierungen sollten die Bereitstellung von Mitteln für das Welternährungsprogramm zum Kauf von Getreide umfassen und die Aufrechterhaltung des Handels einschließlich des Handels mit Lebensmitteln von und nach Russland, heißt es in der Erklärung. Die sozialen Sicherungssysteme sollten in der gesamten EU gestärkt werden, um negative Auswirkungen der steigenden Lebensmittelpreise für arme Haushalte zu vermeiden.

"Dieser schreckliche Krieg zwingt uns, etablierte Praktiken zu überdenken. Das gilt insbesondere auch im Ernährungssektor, der bereits jetzt Schockwellen erlebt, die von den Märkten übertragen und durch die Verwerfungen in der Ukraine und in Russland verursacht werden", sagt Marco Springmann von der Universität Oxford, ebenfalls einer der Mitautoren. "Die Diskussion über Ernährungsumstellungen angesichts des Krieges ist wichtiger, als es auf den ersten Blick scheinen mag, denn durch eine stärker pflanzlich basierte Ernährung anstelle von Fleisch wären in der Welt letztlich mehr Nahrungsmittel verfügbar, einfach weil die Tierproduktion ineffizient ist. Wir können und sollten auf die kurzfristige Krise in einer Weise reagieren, die auch geeignet ist, die langfristigen Krisen des Welternährungssystems zu bewältigen."

Zu den Unterzeichnern der Erklärung aus Deutschland gehören unter anderem Prof. Dr. Harald Grethe von der Humboldt-Universität in Berlin, Prof. Dr. Friedhelm Taube von der Universität in Kiel und Prof. Dr. Eike Lüdeling von der Universität Bonn.