Keine Zeitenwende rückwärts

Stimmen unter anderem aus Brüssel, aus dem Bundestag und vom Bauernverband stellen angesichts des Ukraine-Konflikts beschlossene Konzepte und Maßnahmen zur Agrarpolitik auf nationaler und EU-Ebene in Frage. Deutlicher Widerspruch kommt nicht nur vom Bundeslandwirtschaftsminister.

„Putins Angriffskrieg auf die Ukraine wird alle unsere Lebensbereiche beeinflussen. Die wichtigste Frage ist heute immer noch, wie können wir den Menschen in der Ukraine helfen? Wir haben umgehend eine Koordinierungsstelle eingerichtet, die sich darum kümmert, dass Lebensmittelgroßspenden aus der Wirtschaft zu den Betroffenen in die Ukraine kommen. Die ersten Lastwagen sind bereits auf dem Weg. Für dieses Engagement der Unternehmen bin ich sehr dankbar. Mit gleicher Ernsthaftigkeit hat mein Haus die Auswirkungen auf die Lebensmittelmärkte und die weltweite Versorgungssicherheit und die Folgen für den Agrarsektor im Blick. Ich rate aber, jetzt nicht die alten Sprechzettel herauszuholen und die jetzige Situation für agrarpolitische Eigeninteressen zu missbrauchen“, erklärt Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir im top agrar-Interview und widerspricht damit denjenigen, die in Reaktion auf den Ukraine-Krieg den zuvor eingeschlagenen Weg in der Agrarpolitik vollständig in Frage stellen. „Wenn wir jetzt vom Recht auf Nahrung sprechen, dann sollten wir nicht die Axt an Klima- und Naturschutz legen, sondern gemeinsam dafür sorgen, dass die Agrarproduktion nicht mehr vorrangig im Futtertrog landet, sondern Menschen direkt versorgt. Grundsätzlich geht es um eine Kreislauf-Landwirtschaft, die unabhängiger ist von energieintensivem Mineraldünger. Und zwar auch aus geopolitischen Gründen“, so Özdemir.

Zuvor hatte unter anderem der Vizepräsident des Deutschen Bauernverbandes (DBV), Karsten Schmal, einer weiteren Extensivierung der Landwirtschaft eine Absage erteilt und ein Umdenken in der europäischen und nationalen Agrarpolitik gefordert. Ähnlich hatten sich auch Unionspolitiker geäußert. Oberste Priorität müsse auf der Nahrungsmittelerzeugung liegen und ökologische Aspekte seien wichtig, müssten aber für die nötige Zeit in den Hintergrund treten, äußerte Sachsen-Anhalts Wirtschafts- und Landwirtschaftsminister Sven Schulze (CDU) und stellte auch den Green Deal samt der dazugehörigen Farm-to-Fork-Strategie in Frage. Vor „politischen Denkverboten“ warnte der agrarpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Albert Stegemann. Es dürfe im Agrarsektor „keine Denktabus geben“, erklärte die niedersächsische Landwirtschaftsministerin Otte-Kinast.

Zeitenwende rückwärts?

„Russlands Krieg gegen die Ukraine bringt uns in eine Zeitenwende. Die Sicherheit, in der wir uns bisher gewiegt haben, ist vorbei. Was bei uns als Bedrohung ankommt, verstehen der Deutsche Bauernverband und die alte Garde der Agrarpolitik offensichtlich anders: Als Ermutigung, die alte Politik zurückzufordern. Schließlich herrsche Krieg und die Preise steigen. Da müssten alle Reserven mobilisiert, Produktionsschlachten geschlagen werden. Pestizide, Stickstoffdünger, Massentierhaltung, das ganze Programm der Agrarindustrie muss aufgefahren werden. „Green Deal“ und „Farm to Fork“, die grünen Brüsseler Ideen weg von der Agrarpolitischen Tagesordnung und weg mit der Ökologisierung, wie sie die Ampel in Berlin umsetzen will“, kommentiert Wilfried Bommert vom Institut für Welternährung.

„Zunächst nur als Frage getarnt oder als Zweifel kaschiert, die Grüne Front macht mobil und versucht, aus dem Krieg Russlands politischen Gewinn zu ziehen. Aus der Krise, in die der Krieg die Welt schickt, politisches Kapital zu schlagen. Auf wessen Kosten? Um es klar zu sagen: Auf Kosten einer neuen Welternährungskrise“, so Bommert. Zu fordern, dass noch mehr Öl und Gas in die Maschinerie der Industrielandwirtschaft fließen und Kunstdünger und Pestizide nicht reduziert werden, wie es der „Green Deal“ und die „Farm to Fork“ Strategie der Brüsseler Kommission fordern, zeuge von massivem Realitätsverlust. Dabei sei klar: „Um den Energiekosten zu begegnen, das Klima in den Griff zu bekommen und dem Krieg ein Ende zu bereiten, ist der Abschied aus der energiefressenden, fossilen Landwirtschaft zwingend. Schnell und ohne Kompromisse.“

Auch in Krisenzeiten Ziele des Green Deals weiterverfolgen!

Der Forderung von Bundes- und EU-Politiker*innen, den Europäischen Green Deal aufgrund des Krieges in der Ukraine auszusetzen, widerspricht auch Bioland. „Mit dem Überfall auf die Ukraine hat der russische Präsident Wladimir Putin die Ukraine, Europa und die gesamte Welt in eine tiefe Krise gestürzt. Unsere volle Solidarität gilt den Bürger*innen der Ukraine, über die nun unverschuldet so viel Leid gekommen ist, sowie auch den vielen russischen Bürger*innen, die den Krieg nicht wollen und das mutig auf der Straße aussprechen“, kommentiert Bioland-Präsident Jan Plagge.

Wer anlässlich des Krieges in der Ukraine fordere, den EU Green Deal auszusetzen, „verkennt, dass wir uns aktuell auch inmitten einer Klima- und Artenvielfaltskrise befinden. Es muss doch gerade jetzt im Bereich der Land- und Ernährungswirtschaft unsere Aufgabe sein – analog zum Umdenken in der Energiewirtschaft – alle künftigen Risiken in unsere Systeme einzupreisen. Und das gelinge nur, indem wir unser Ernährungssystem wirksam schrittweise umzubauen“, so Plagge.

„Wir wissen ja, wie wichtig stabile, robuste Ökosysteme für die Sicherung unserer Lebensgrundlagen sind. Wasser, Nahrung, Arten und Klima brauchen unseren besonderen Schutz, zu dem der Ökolandbau mit seiner naturnahen Wirtschaftsweise im Besonderen beiträgt. Die Erreichung der europäischen Ziele aus dem Green Deal – und der nationalen Öko-Ziele – ist daher zentral für den Aufbau eines neuen Ernährungssystems, das uns mehr Sicherheit und mehr Stabilität bringt. Die Fortschreibung alter Fehler hingegen wird uns dabei sicherlich nicht helfen“, erklärt der Bioland-Präsident.

08.03.2022

Zeichen wie diese, das rund 100 Landwirte aus dem Emsland und der Grafschaft Bentheim mit ihren Traktoren gesetzt haben und das top agrar auf instagram postete, bleiben auch bei aller Auseinandersetzung um die zukünftige Agrarpolitik wichtig.