Widerstand ist fruchtbar

Nach dem gemeinsamen Besuch eines Camps zu bäuerlichem Widerstand im französischen Bure sprach Lennart Tiller von der jungen AbL mit Morgan Ody, seit zwei Jahren Koordinatorin von La Via Campesina, Mitglied der französischen Confédération Paysanne und Gemüsebäuerin in der Bretagne. Nachdem eine Kurzfassung des Gesprächs bereits in der aktuellen Bauernstimme erschienen ist, findet sich nachfolgend die vollständige Gesprächsaufzeichnung von Lennart Tiller.

Ich sitze hier mit Morgan Ody im Büro der Confédération Paysanne in Paris auf unserem Rückweg aus dem Camp für bäuerliche und ländliche Kämpfe in Bure. Morgan ist eine Bäuer*in aus der Bretagne in Frankreich, sie ist sehr aktiv in der Confédération Paysanne, einer Schwesterorganistion der AbL, und hat die Rolle der Generalkoordinatorin von La Via Campesina inne.

Morgan, ich möchte mit dir darüber sprechen, wer du bist, woran du derzeit arbeitest und vor allem über die politische Situation in Frankreich. Aber bevor wir damit anfangen: wir kommen gerade aus Bure zurück. Magst du davon erzählen, was dort passiert ist und wie du das Camp erlebt hast?

Wir waren in Bure in einem Camp für ländliche und bäuerliche Kämpfe an einem besonderen Ort, weil die Regierung in der Nähe versucht, eine Atommüll-Endlagerstätte zu bauen. Die Leute wehren sich dagegen, weil das natürlich nicht nur Landraub bedeutet, sondern eine massive und historisch lange Verschmutzung des Landes für die nächsten Jahrtausende. Die Menschen wollen nicht, dass ihre Gebiete zu einer riesigen nuklearen Müllhalde werden, und sie versuchen, dieses Projekt zum Scheitern zu bringen. Aber es ist eine sehr schwierige Situation in einem ziemlich armen Gebiet Frankreichs und die Regierung gibt Millionen an die Gemeinden in der Umgebung, um die Menschen zu kaufen, was ziemlich traurig und schrecklich ist.

Das Camp dauerte mehr als eine Woche und war absolut großartig. Man hatte 400 Leute erwartet, aber es kamen mehr als 900, nicht nur aus Frankreich, sondern aus allen möglichen Ländern: auch eine große Gruppe aus Deutschland, aus Belgien, es waren auch einige Leute aus Kanada dabei, und es gab eine Delegation aus Mali, von indigenen Völkern aus Amerika, und Leute aus dem Kongo, also wirklich sehr international, und das hat viel Kraft und Inspiration gegeben.

Im Zuge des Camps fand auch eine Demonstration statt. Viele von uns aus Deutschland, die angereist sind, waren aber sehr besorgt, daran teilzunehmen. Denn der Eindruck aus dem Ausland ist, dass in Frankreich die Repressionen der Polizei gegen soziale Bewegungen besonders intensiv sind. Da ist zum Beispiel die Kriminalisierung der Bewegung Soulèvements de la Terre, die exemplarisch ist für die Kriminalisierung, die gegen viele Bewegungen in Europa derzeit stattfindet. Was hat sich diesbezüglich in den letzten Jahren verändert?

Nun, Soulèvements de la Terre ist eine junge Bewegung, die vor zwei Jahren entstanden ist und versucht, verschiedene lokale Kämpfe zu koordinieren. Die Idee ist, einen Kalender für sechs Monate zu erstellen, in dem wir vier oder fünf Termine für gemeinsame Mobilisierungen auf der Grundlage lokaler Kämpfe festlegen, so dass alle Leute aus den verschiedenen Bewegungen (Anm.: inklusive der Confédération Paysanne) zusammen zu einem Kampf gehen und dann alle zusammen zu einem anderen, was natürlich die Bewegungen viel stärker macht. Das Ganze war so erfolgreich! Es ist unglaublich, dass diese Strategie dazu geführt hat, dass wir statt Demonstrationen mit 200 Leuten, Demonstration mit 2000 Leuten gemacht haben und ich denke, dass die Regierung davor sehr viel Angst hatte. Und so ist die Regierung völlig verrückt geworden. Sie bezeichnete diese Bewegung als Öko-Terroristen. Ich meine, das ist kein Terrorismus. Niemand ist jemals verletzt worden, und es geht schon gar nicht darum, Menschen zu töten. Natürlich ist es ziviler Ungehorsam und es gab einige materielle Zerstörungen. Aber das ist wirklich ein Teil der Geschichte des zivilen Ungehorsams, den wir seit Jahrzehnten, Jahrhunderten, vielleicht Jahrtausenden in unseren Kämpfen haben und der Teil der Geschichte ist. Der Autoritarismus hat in Frankreich eine neue Stufe erreicht. Während der Gelbwestenbewegung 2019 und dann während der sozialen Bewegung gegen die Reform des Rentensystems 2023 verloren viele Menschen ihre Augen oder eine Hand durch die Polizei.

Und dann hatten wir diese Demonstration in Sainte-Soline am 25. März. Rund 30.000 Menschen kamen, um gegen den Bau der Mega Basins - riesige Wasserspeicher für die Agrarindustrie - zu demonstrieren. Denn in vielen Orten in Frankreich gibt es nicht mehr genug Wasser, um es den Menschen für den täglichen Verbrauch zur Verfügung zu stellen. Wir haben auf einem Feld demonstriert, wo es nichts zu zerstören gibt, und dennoch: Die Regierung hat 2000 Polizist*innen mit Kriegsmaterial dorthin geschickt, und wir wurden in einer Stunde mit mehr als 5000 Tränengasgranaten beschossen. Es fühlte sich an wie im Krieg, mehr als 200 Menschen wurden schwer verletzt, zwei sind fast gestorben. Sie sind jetzt genesen, aber einer der beiden lag drei Monate im Koma. Wir haben erlebt, dass die französische Polizei bereit ist, Demonstrierende zu töten, um die kapitalistische Ordnung aufrechtzuerhalten. Nun, vielleicht stimmt das nicht ganz. Bisher hat die Polizei Schwarze getötet, junge schwarze Personen. Das ist ein Skandal, denn der Rassismus in der französischen Polizei ist sehr alt. Neu ist, dass sie nun auch bereit sind, Weiße zu töten.

Was hat sich geändert?

Unsere Analyse ist, dass wir in einen neuen Wirtschaftszyklus eintreten, in dem materielles Wachstum nicht mehr möglich ist. Damit die transnationalen Unternehmen und die Reichen immer reicher werden, muss das Land die Mittelschicht verarmen lassen. Der Kuchen kann nicht mehr wachsen. Und natürlich akzeptiert die Bevölkerung das nicht. Bei den Gelbwesten ging es sehr viel um soziale Gerechtigkeit und beim Kampf um das Wasser geht es auch darum. Werden wir Wasser für den Golfsport haben oder werden wir Wasser zum Trinken haben? Es geht also um soziale Gerechtigkeit, und da dieser soziale Konflikt zunimmt, hat die Regierung keine andere Wahl als Gewalt und die Polizei mit ihren Kriegswaffen einzusetzen, um ihre Macht gegen die wachsenden Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit zu erhalten. Ich denke, dass die Situation auf internationaler Ebene schon immer so war. Frankreich, die USA und andere imperialistische Länder haben schon immer Menschen getötet, die in den südlichen Ländern demonstrierten und soziale Gerechtigkeit forderten. Aber diese Dinge hatten wir bisher nicht in Europa gesehen, wir waren blind, was ich bedauere. Nun kommt das gleiche auf uns zu. Ich denke, dass dies unsere internationalistische Solidarität stärken sollte.

Das ist ein gutes Stichwort, um auf deine Arbeit bei La Via Campesina zu kommen. Welche Rolle nimmst du da ein und was sagen die Menschen, denen du auf deinen Reisen begegnest, zu der Situation in Frankreich?

Ich habe vor zwei Jahren die Rolle der Generalkoordinatorin von La Via Campesina übernommen und fühle mich sehr privilegiert, dass ich so viele Leute aus der ganzen Welt treffen kann. Ich lerne so viel von ihnen und ich denke, dass wir die Analyse teilen, dass die Welt sich verändert. Nach dem 2. Weltkrieg war der Wohlstand Europas und seiner Sozialstaaten nur durch den Imperialismus möglich. Und jetzt, da sich die Geopolitik verschiebt, kehren die Menschen in Europa in die normale Situation zurück, einer brutalen Elite gegenüberzustehen, die bereit ist, uns zu töten, um mehr Reichtum gegen die große Mehrheit der Menschen anzuhäufen. Ich denke, es ist eine gemeinsame Analyse und sie sagen uns, dass wir so lange blind waren. Sie hätten schon lange so gelebt, aber wir konnten es nicht sehen. Sie sagen, dass wir diese Gedanken weggeschoben hätten, dass wir dachten, sie übertreiben. Oder dass unsere Regierungen so gut seien, weil wir gute soziale Bewegungen hatten, die den "Wohlfahrtsstaat" erkämpft hätten. Aber nein, in Wirklichkeit ist es so, dass die Zivilgesellschaft in Europa mit wirtschaftlichem Wachstum durch den Imperialismus gekauft wurde. Aber jetzt ist das nicht mehr möglich. Und so droht uns das gleiche Schicksal wie den Menschen im Süden.

La Via Campesina und seine Mitgliedsorganisationen wie die AbL oder die Confédération Paysanne sind Organisationen von (Klein-)Bäuer*innen. Bisher haben wir viel über die große Politik gesprochen, aber inwiefern ist das für Bäuer*innen relevant?

Auf globaler Ebene sind die meisten Menschen Bäuer*innen. In so vielen Ländern ist die Bevölkerung vor allem bäuerlich, und hier war es auch mal so. Ich meine, es ist erst in den letzten Jahrzehnten geschehen, dass in Europa die Mehrheit nicht mehr bäuerlich ist. Das ist also nicht die Normalität. Was also in der Geopolitik passiert, betrifft uns, die Bäuer*innen, überall. Ich meine, wenn es um diese soziale Ungerechtigkeit und diese geopolitischen Konflikte geht, dann geht es um Landraub. Es geht um die Aneignung von Wasser. Es geht darum, die lokale Produktion zu zerstören, damit transnationale Unternehmen den Markt für Lebensmittel übernehmen können. All diese Dinge haben also sehr viel mit dem zu tun, was wir als Bäuer*innen tun, wenn wir über Ernährungssouveränität und Agrarökologie und Feminismus sprechen. Wir sprechen über die Welt, wie sie ist, und das ist der Grund dafür, dass wir als bäuerliche Organisation nicht nur Bauern und Bäuer*innen verteidigen. Wir wollen die Welt zu einer besseren machen.

In einigen Monaten werden wir in Bogota, Kolumbien, eine Konferenz von La Via Campesina abhalten, deren Motto lautet: "Angesichts der globalen Krisen bauen wir Ernährungssouveränität, um der Menschheit eine Zukunft zu sichern", und ich denke, das ist der Ehrgeiz, den wir haben. Klingt das arrogant? Vielleicht, aber das ist es, woran wir glauben! Das heißt, wenn wir das umsetzen, was wir als La Via Campesina fordern - Ernährungssouveränität, Agrarökologie, bäuerlicher Feminismus, Bäuer*innenrechte - dann werden wir die Welt verändern. Und wenn wir das nicht erreichen, ist das das Rezept für eine Katastrophe, eine Umweltkatastrophe, eine demokratische Katastrophe, eine soziale Katastrophe. Also entweder wir akzeptieren diese Ungerechtigkeit, die kapitalistische, patriarchale, extraktivistische, imperialistische Welt. Oder wir wehren uns in Solidarität mit dem Internationalismus. Wir schlagen der ganzen Gesellschaft einen Weg für ein menschenwürdiges Leben für alle vor, und das ist es, was wir tun wollen.

In Haiti bilden die Bäuer*innen eine Mehrheit der Gesellschaft und ihre Organisationen bieten eine echte Vision, wie das Land als Ganzes aussehen könnte. Aber wenn ich mir Deutschland und die dortige Bewegungslandschaft anschaue, dann kennen viele Leute La Via Campesina oder die AbL nicht. In den linken Kämpfen geht es stattdessen oft um städtische Themen. Welche Möglichkeiten siehst du, als bäuerliche Organisationen in Europa mehr gehört zu werden? 

Bei Soulèvement de la Terre und anderen jungen Bewegungen in Europa finde ich es spannend, dass viele Aktivist*innen verstanden haben, dass die Landwirtschaft zentral ist. Ich glaube, dass wir als Bäuer*innen oft sehr bescheiden sind, auch weil wir sehr viel gedemütigt werden. Ich meine, man hat uns so oft gesagt, dass wir als Bäuer*innen der Vergangenheit angehörten, dass wir verschwinden würden; Folklore und so. Und wir haben diese Demütigung ein bisschen verinnerlicht. Also sagen wir oft: „Wir wollen das Recht, zu existieren“. Ich denke, dass die Klimakrise und die Umweltkrise, eine Krise der Beziehung zu unseren Territorien, zu unserer Natur ist. Wir sind die Experten für die Beziehung zu den Territorien, dafür, wie man sich um das Territorium kümmert, um das zu produzieren, was alle menschlichen Gemeinschaften für ein menschenwürdiges Leben brauchen. Das ist unsere Aufgabe, und unsere Aufgabe steht im Mittelpunkt dessen, was wir jetzt in Europa für die Zukunft brauchen, genau wie in jedem anderen Teil der Welt. Es ist nur so, dass wir in Europa stärker dezimiert worden sind, wir sind sehr wenige Bäuer*innen. Wir sind isoliert, wir haben das Vertrauen verloren. Das ist der Grund, warum in der europäischen Koordination Via Campesina (ECVC) unser Motto lautet: „Europa braucht mehr Bäuer*innen “. Wir müssen viel zahlreicher werden. Es geht nicht darum, dass jeder Einzelne von uns eine bessere Landwirtschaft macht. Ich zum Beispiel bin schon eine Biobäuerin, aber ich arbeite noch lange nicht perfekt. Wenn ich biodynamisch oder permakulturell arbeiten würde, würde das die Gesellschaft aber nicht verändern. Was die Gesellschaft in Europa verändern würde, wäre, wenn wir, die Bäuer*innen, mehr werden, um den Faktor zwei, drei oder zehn.

Und was braucht es dafür?

Wir brauchen Zugang zu Land, wir brauchen ein Recht auf Land, das respektiert wird. Wir brauchen ein faires Einkommen, denn es ist für junge Leute nicht attraktiv, in die Landwirtschaft zu gehen, wenn man sicher sein kann, dass man die Hälfte des Mindestlohns erhält, denn wenn man alte Eltern oder Kinder hat, muss man für sie sorgen und ein wirkliches Einkommen haben. Wir müssen also für faire Einkommen für die Landwirt*innen sorgen, und faire Einnahmen bedeuten faire Preise, wenn wir die Lebensmittel, die wir produzieren, verkaufen. Und faire Preise bedeuten Marktregulierung. Und wir brauchen eine gute Ausbildung. Es sollte überall Schulen für Agrarökologie geben, auch für Stadtbewohner*innen. Die Mehrheit der jungen Leute ist jetzt in den Städten, die müssen wir unterrichten. Denn natürlich, wenn du auf einem Familienbauernhof aufgewachsen bist, wirst du viele Dinge wissen. Wenn du in der Stadt lebst, musst du viel lernen. Vielleicht haben sie einen Abschluss oder einen Doktortitel in Soziologie oder in Mathematik. Wenn sie Landwirt*in werden wollen, müssen sie viel lernen, weil sie völlig unwissend sind. Eigentlich hat man uns gesagt, dass wir Bäuer*innen unwissend sind, aber wir wissen viel. Und die Leute, die jetzt wieder zu Bäuer*innen werden sollen, müssen viel lernen, mit viel Demut. Ja, wir brauchen diese Schulen, und wir wissen auch, dass wir öffentliche Dienstleistungen brauchen, denn wenn wir wollen, dass der ländliche Raum attraktiv ist. Wir brauchen Züge, wir brauchen Schulen, es muss Spaß machen, im ländlichen Raum zu leben. Wir brauchen Konzerte und kulturelle Aktivitäten und gute Krankenhäuser für die Landbevölkerung. All diese Dinge machen das Leben auf dem Lande zu einem guten Leben. Denn eigentlich ist es ein gutes Leben.

Ich denke, wenn wir die Klimakrise ernsthaft angehen würden, dann sollte die Priorität eine Agrarreform sein. Und nicht diese kleine Politik zu diesem und jenem. Es sollte eine große Reform sein, und ich denke, wir sollten aufhören, so bescheiden zu sein, und wir sollten wirklich anfangen, den Menschen in den Städten zu sagen, dass die Landwirtschaft nicht nur ein Thema nach dem Tourismus, den Industriedienstleistungen und so weiter ist. Nein! Ihr müsst dreimal am Tag essen. Jeder braucht das, und wir haben das während der Pandemie gesehen. Denn wir produzieren Lebensmittel und die Menschen brauchen Lebensmittel. Also, ja, das sollte im Mittelpunkt stehen, und zwar zusammen mit all den Aktivitäten zur Pflege, zur Pflege der anderen, zur Pflege der Tiere und zur Pflege der Territorien, natürlich zusammen mit den Gesundheitsdiensten. Ich meine, die Krankenpfleger*innen und die Menschen, die sich um die älteren Menschen kümmern, sie sollten auch viel mehr sein. Den Menschen, die sich um die Kinder kümmern, sollte ein hoher Stellenwert eingeräumt werden. Meistens sind das die Frauen. Die meisten Bäuer*innen auf dieser Welt sind Frauen, und die meisten Menschen, die sich um ältere Menschen und Kinder kümmern, sind Frauen. Ich glaube, dass der bäuerliche Feminismus nicht nur für Frauen ist. Es geht darum, zu sagen, dass die Welt viel feministischer sein sollte, was die Werte angeht, die wir alle teilen.

Wie sehen diese Debatten über bäuerlichen Feminismus innerhalb von La Via Campesina aus?

Es begann mit dem Thema der Gewalt gegen Frauen auf der Konferenz in Mosambik. Wir haben eine große Kampagne gegen die Gewalt gegen Frauen gestartet. Und dann denke ich, dass wir nach und nach verstanden, was Feminismus bedeutet. Das ist auch die Art und Weise, wie wir in La Via Campesina arbeiten, wir haben keinen Plan für die nächsten 10 Jahre. Wir gehen hin und lernen. Wir reden miteinander, und das hat viel mit Instinkt zu tun. Und beim Feminismus ist es das Gleiche. Ich meine, wir haben angefangen, weil es nicht sein kann, dass so viele Frauen auf dem Land von Männern verletzt, vergewaltigt und getötet werden. Das müssen wir stoppen. Und ich glaube, jetzt haben wir verstanden, dass der bäuerliche Feminismus viel mehr ist als das. Natürlich müssen wir mit der Gewalt aufhören, aber das allein wird die Gesellschaft nicht verändern. Der bäuerliche Feminismus ist revolutionär in dem Sinne, dass er die ganze Bevölkerung in den Blick nimmt, mit dem Ziel, dass es zu mehr gegenseitigem Respekt und zu Werten kommt, die mehr mit der Fürsorge verbunden sind; auch in Bezug auf die Territorien. In fast allen Gesellschaften sind es die Frauen, die sich um die Tiere kümmern. Sie kümmern sich um das Saatgut, bewahren das Leben. Wir haben noch nicht verstanden, wie wichtig der Feminismus ist. Genauso wie wir noch nicht verstanden haben, wie wichtig die Agrarökologie ist, und ich denke, Agrarökologie und Feminismus sind völlig miteinander verbunden. Agrarökologie ist nicht nur eine Reihe von landwirtschaftlichen Techniken, sondern zeigt uns, was wir um uns herum haben und ob es in dieser Beziehung um Herrschaft geht oder ob es darum geht, Teil der Welt zu sein und füreinander zu sorgen.

Die Dinge, die du beschreibst, kann man vermutlich nicht in einem Studium erlernen, sondern muss sie selbst erfahren. Magst du eine Geschichte von deinem letzten Besuch in Haiti teilen, der deine Sicht auf die Dinge verändert hat. Denn es sind diese Erfahrungen mit den Menschen, denen du begegnet bist, die mich im Gespräch mit dir am meisten beeindruckt haben.

Was mich in Haiti sehr beeindruckt hat, ist die Tatsache, dass sie ihre Kraft aus ihrer Spiritualität, aus ihren Territorien und aus der Beziehung zu ihren Vorfahren und den Ureinwohnern, die von den europäischen Kolonisator*innen ausgerottet wurden, schöpfen. Die gesamte indigene Bevölkerung Haitis wurde ausgerottet. Innerhalb von 30 Jahren wurden 1.000.000 Taino in Haiti ausgerottet. Und dann? Die europäischen Kolonisator*innen, sie brachten Menschen, um in Haiti als Sklaven zu arbeiten. Und als die Sklaven beschlossen, eine Revolution zu machen, um frei zu sein, riefen sie die Geister der ehemaligen Ureinwohner der Taino an, um sich am Kampf zu beteiligen. Und auch heute noch werden die Kämpfe der haitianischen bäuerlichen Organisation durch Lieder und Tänze getragen. Sie haben eine sehr starke Spiritualität, die nichts mit Religion zu tun hat, und schon gar nicht mit dem Christentum. Sie ziehen die Kraft aus der Natur und aus den Energien, die uns umgeben, um für das Leben zu kämpfen, für ein anständiges Leben. Und das ist, glaube ich, sehr stark. Und ich denke, dass wir Europäer so sehr in unserem Köpfen stecken und uns so klug fühlen, aber so viel von ihnen lernen können, wie wir uns auch mit den Gefühlen und der Kraft der Natur verbinden können.

Das geschieht ein wenig mit Soulèvement de la Terre. Zum Beispiel gibt es diesen Satz, den wir sagen. „Wir verteidigen nicht die Natur, wir sind die Natur, die sich selbst verteidigt“. Und ich denke, das ist ein bisschen die Lektion, die wir gelernt haben. Das gibt uns Kraft, und das ist der einzige Weg, um eine Chance zu haben, in diesem riesigen Kampf, den wir zu führen haben. Aber es ist hart, als sei es nicht schon schwer genug mit der Polizei, mit den sozialen Ungerechtigkeiten. Es ist sehr hart und wir werden stark sein müssen. Aber zumindest glaube ich, dass wir die Werte des Internationalismus, der Solidarität, der gegenseitigen Hilfe und der Fürsorge füreinander pflegen. Wir lieben unsere Territorien. Wir heißen die Fremden und die Menschen, die von weit her kommen, willkommen, und das macht uns so glücklich. Und auch so stark. Und ich denke, dass die Menschen vor uns, die Elite, so traurig sind und so viel glücklicher sein werden, wenn sie sich uns anschließen. Die Idee ist ja nicht, sie zu zerstören. Die Idee ist, eine bessere Welt für alle zu schaffen.

Das ist etwas, was mich in den letzten zwei Tagen sehr inspiriert hat. Wenn du redest, scheinst du sehr deutlich für dich zu wissen, wofür du einstehst, gerade jetzt, bei all der Unterdrückung. Du erzähltest auch, dass ihr niemals eure Gesichter bei den Demonstrationen verbergen würdet, also euch nicht versteckt.

Genau. Wir respektieren viele Leute, die sich entscheiden, ihr Gesicht zu verbergen und die andere Strategien haben. Aber als Confédération Paysanne und ich denke, in den meisten Organisationen von La Via Campesina sind das wichtige Werte. Wir sind legitim. Wir verteidigen unser Land. Wir verteidigen unsere Rechte. Wir sind keine Kriminellen. Sie nennen uns Terroristen. Wir sind keine Terroristen. Sie sind die Terroristen. Sie schaffen den Terror. Nein, wir stehen hier nur für ein anständiges Leben für alle, für das, was normal sein sollte. Ich bin nicht radikal. Ich bin überhaupt nicht radikal. Für ein menschenwürdiges Leben einzustehen, für soziale Gerechtigkeit, dafür, dass jeder in der Lage ist, trinkbares Wasser zu trinken: all das sind keine verrückten Dinge. Es sind normale Dinge und wir sollten stolz sein auf das, was wir tun und sehr zuversichtlich, dass das, wofür wir kämpfen, das Richtige ist. Wir machen vielleicht Fehler, das ist in Ordnung. Wir sollten einfach schnell um Entschuldigung bitten, wenn wir Fehler machen. Wir sollten auch den Gewerkschaften und den jungen Klimaaktivist*innen zuhören und versuchen, eine Einheit zu bilden. Wir sollten nicht das Gefühl haben, dass wir die Besten sind, sondern dass wir eine einheitliche Bewegung mit anderen Menschen aufbauen wollen. Denn wenn wir, wenn wir viele Bäuer*innen werden wollen, wenn es um Ernährungssouveränität geht, dann ist das nicht nur ein bäuerliches Projekt. Wir sollten also beim Aufbau unserer Bewegungen sehr inklusiv vorgehen.

Was denkst du, wie könnten die nächsten zwei Jahre in Frankreich aussehen, wie wird es mit der Bewegung hier weitergehen. Habt ihr eine Vorstellung davon, wie eure nächsten Strategien aussehen werden? Welche Richtung werdet ihr einschlagen?

Nein, und ich bin sehr glücklich, denn ich weiß es nicht. Ich denke, das ist das Schöne an der menschlichen Geschichte. Sie ist noch nicht geschrieben, wir müssen sie schreiben. Wie sie aussehen wird, das hängt von uns ab. Wir können nicht einfach zurück auf unsere Höfe gehen und denken, OK, ich will das nicht sehen, das ist zu schrecklich, ich bleibe einfach geschützt auf meiner Farm. Die meisten unserer Bauernhöfe sind sehr schöne und nette Orte, wo es sich gut leben lässt, aber wir müssen uns auch um die Organisation kümmern, um die sozialen Bewegungen, um die Organisation von Kämpfen, von Camps, Landwirtschaft, Schulen, um all diese Arbeit, die wir machen müssen. Und wenn wir das richtig machen, bin ich mir sicher, dass das sehr fruchtbar sein wird.

Etwas sehr Lustiges an diesem Camp diese Woche war, dass wir vor 15 Jahren mit einigen Freund*innen eine sehr kleine Bewegung gründeten. Jetzt hörte ich, dass es diese immer noch gibt, dass es in anderen Ländern immer noch Treffen dieser Bewegung gibt, obwohl wir bisher dachten, sie sei gestorben. Aber nein, weißt du, wir hatten einen Samen gelegt. Und er hat Bäume, Pflanzen und Früchte an Orten hervorgebracht, die wir nicht erwartet hatten. Und ich glaube, wenn wir etwas tun, wissen wir nie, was das Ergebnis sein wird. Aber es wird Ergebnisse geben! Vielleicht ist es im nächsten Jahr noch unsichtbar, aber vielleicht sieht man das Ergebnis in fünf Jahren. Und das ist es auch, was uns Bäuer*innen ausmacht. Wir sind geduldig. Wenn man ein Samenkorn legt, weiß man nicht, wann es aufgeht. Manche Samen, sie können in einer Woche aufgehen, und manche kommen in der nächsten Saison. Man weiß es nicht, man weiß es nicht genau. Die Geschichte ist dasselbe. Man setzt eine Aktion und weiß nicht, wann diese Aktion Früchte tragen wird. Und das finde ich gut. Es muss so sein, weil das Leben so ist. Es ist keine Maschine.

04.10.2023
Von: FebL/PM

Gemüsebäuerin Morgan Ody. Foto:privat