Tönnies’ Notbrief: Vertragsausstieg wegen höherer Gewalt

In einem dramatischen „Notbrief“ hat sich Tönnies Foodservice am 10. März an seine Kunden gewendet und um Verständnis geworben, dass er aus laufenden Verträgen aussteigen und höhere Preise „mit sofortiger Wirkung und zwingend zur kommenden Woche“ umsetzen müsse. Diese äußerst ungewöhnliche und auch riskante Maßnahme vor allem gegenüber Teilen des mächtigen Handels begründet der Fleischkonzern mit dem Schutz des Unternehmens „für diese ausnahmslose und durch höhere Gewalt getriebene Sondersituation“. 

Zu den allgemeinen Kostenentwicklungen der letzten Monate durch gestörte Lieferketten, Erhöhungen bei Energie, Verpackungen, Frachten, Mindestlöhnen der Fleischbranche usw. seien massive Auswirkungen des Russland- Ukraine- Krieges zu spüren. Ein Krisennetzwerk des niedersächsischen Ministeriums habe auf der Basis der höheren Gewalt Szenarien zur Notabsicherung diskutiert.

Alle Fleischmärkte habe diese unvorhersehbare Entwicklung massiv getroffen, heißt es in dem Brandbrief. Daher müssten die Preise angepasst und die Kontaktzeiten „bis auf Widerruf“ geöffnet werden. Im Geflügelbereich fehlten u.a. 3000 t Hähnchenbrustfilets, die wöchentlich aus der Ukraine geliefert würden. Lieferausfälle seien nicht zu verhindern.Auch die Situation auf dem Rindfleischmarkt verlaufe dramatisch. Die Versorgung sei trotz eines Allzeithochs bei den Preisen nicht sicherzustellen. Durch eine Preisexplosion sei der „für den Hauptteil unserer Produkte maßgebliche Schweinefleischmarkt“ gekennzeichnet. In den letzten vier Wochen sei der Preis um 45% gestiegen und habe „die Kalkulationen der Branche weiter verschlimmert. Der andauernde niedrige Schweinepreis hat die Landwirtschaft dahingetrieben, ganze Mastanlagen leer stehen zu lassen und massiv weniger Tiere einzustallen.“

Ob sich der Handel von der „höheren Gewalt“- Argumentation beeindrucken lässt, muss sich erst zeigen. Jedenfalls ist die „force majeure“ (Rechtsbegriff für höhere Gewalt), die auch für Strom- und Gaskontrakte besteht, eine mögliche Begründung für die „Bitte“ um den Vertragsausstieg.

Gesamte Branche betroffen

Aber Tönnies steht wahrlich nicht allein. Die gesamte Fleischbranche schlägt Alarm. Andere Unternehmen der Branche wie Vion, Westfleisch und Wiesenhof haben bereits ähnliche Schritte angekündigt. Für Westfleisch oder Müller- Fleisch (Ulm) z.B. sind nach dem verlustreichen Jahr 2021 die aktuellen Herausforderungen eine (Über-)Lebensfrage.

Auch der zweitgrößte deutsche Wursthersteller The Family Butcher (TFB), ein Zusammenschluss von Kemper und Reinert, klagt über die „unübersehbare Not.“ FTB war erst vor kurzem aus einer Fusion hervorgegangen, um mit Größe dem Umbruch der Fleischwirtschaft zu begegnen. Die „wahre Kostenexplosion bei den deutschen Wurst- und Schinkenproduzenten“ sei für viele Betriebe existenzbedrohend.

Der Marktbeobachter meint, dass jetzt die Schlachtindustrie trifft, was die Schweinehaltung seit mindestens einem halben Jahr bedroht. Bisher haben die niedrigen Schweinepreise die Industrie noch „irgendwie“ über Wasser gehalten. Mit der drastischen Preiseerhöhung des letzten Monats als Folge der fehlenden Schlachtzahlen geht es nun ans Eingemachte. Die Landwirte haben mit den dramatischen Ausstiegen aus der Ferkelerzeugung und Mast lange Zeit die Verluste hauptsächlich getragen. Jetzt trifft es die Fleischbranche. Nun muss es der Handel richten, der sich ja in den letzten Monaten gern als Unterstützer der heimischen Produktion dargestellt und dabei gut verdient hat. Man wird sehen. Die Krise ist noch nicht auf dem Höhepunkt.

Zuletzt: So hat sich die Branche den „Umbau der Fleischwirtschaft“ sicherlich nicht vorgestellt, die Landwirtschaft den Umbau der Tierhaltung auch nicht.

Hätte die letzte Regierung den Einstieg in den „Borchert- Plan“ seit 2020 zügig umgesetzt, wäre der Ausweg aus der aktuellen Krise sicherlich leichter zu bewältigen. Auch heute könnte die Ampelregierung noch retten, was zu retten ist. Aber die FDP will ja den Markt regieren lassen. Schon die Zukunftskommission trieb die Einsicht, dass ein Laufen-lassen viel teurer wird. Der Schweinemarkt ist derzeit ein Paradebeispiel.

15.03.2022
Von: hg