Nutztierstrategie für Tierschutzorganisationen längst überfällig
In Bonn hat sich am 9. Juli das vom ehemaligen Bundesagrarminister Jochen Borchert geleitete Kompetenznetzwerk für Nutztierhaltung zu seiner ersten regulären Arbeitssitzung getroffen, nachdem es sich hierfür auf Einladung der Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft, Julia Klöckner, Anfang April konstituierte. "Ziel unserer Nutztierstrategie ist es, ein Mehr an Tierwohl unter Berücksichtigung des Umweltschutzes zu erreichen, sodass auch die wirtschaftliche Grundlage der Landwirte gesichert ist, ebenso wie eine gute Versorgung der Verbraucher. Viele Erfahrungen aus Modell- und Demonstrationsvorhaben liegen bereits vor. Auch sind wir dabei, eine staatliche Tierwohlkennzeichnung einzuführen – der Verbraucher kann dann an der Ladenkasse zeigen, was ihm mehr Tierwohl wert ist“, so der Ex-Minister anlässlich des Treffens.
Die Albert Schweitzer Stiftung für unsere Mitwelt, der Bund gegen Missbrauch der Tiere e.V., der Bundesverband Tierschutz e.V, der Deutsche Tierschutzbund e.V, PROVIEH e.V. und VIER PFOTEN – Stiftung für Tierschutz betonen anlässlich der Sitzung, dass eine Legislaturperioden übergreifende Strategie längst überfällig sei. Zugleich fordern die Tierschutzorganisationen sofortige konkrete, ordnungsrechtliche Schritte in der Tierschutzgesetzgebung, die nicht auf eine zeitraubende Diskussion in Arbeitskreise verschoben werden dürften. Das gelte auch für eine Nutztierstrategie, da auch dafür bereits alle Handlungsleitfäden auf dem Tisch lägen. Bisher war der Deutsche Tierschutzbund als einzige Organisation zur Teilnahme am Kompetenznetzwerk eingeladen, hatte eine Beteiligung aufgrund der Rahmenbedingungen jedoch abgelehnt.
Die sechs Tierschutzorganisationen fordern Bundesministerin Julia Klöckner auf, endlich konkrete, sichtbare Fortschritte im Tierschutz umzusetzen, statt neue, unnötig zeitraubende Diskussionskreise einzuberufen. Mit der unter der Leitung der ehemaligen Bundeslandwirtschaftsministerin Ilse Aigner in einem breiten gesellschaftlichen Dialog erarbeiteten „Charta“, dem Abschlussbericht des Kompetenzkreises „Eine Frage der Haltung“ aus der Amtszeit des Klöckner-Vorgängers Dr. Christian Schmidt und besonders mit dem Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz lägen ausreichend ausgearbeitete Handlungsgrundlagen vor: Jetzt müsse zügig eine Gesamtstrategie entwickelt werden, durch die mit einem aufeinander abgestimmten Maßnahmenbündel die bestehenden Defizite im Bereich des Tierschutzes behoben werden.
Die Tierschutzorganisationen raten Bundesministerin Klöckner, eine entscheidungsbefugte Steuerungsgruppe mit Anbindung an das Ministerbüro einzurichten. Diese müsse entsprechende Leitlinien vorgeben, die Aufgabenstellung für die Arbeitsgruppen setzen und deren Umsetzung kontrollieren. Zudem betonen die Organisationen, dass in der Tierschutzgesetzgebung bereits konkreter Handlungsbedarf identifiziert sei, dessen Umsetzung keinen Aufschub dulde. So gebe es für Puten und Rinder bisher keine national verbindliche Haltungsverordnung. Mit Blick auf das Staatsziel Tierschutz im Grundgesetz sei eine Umsetzung des Amputationsverbotes von Tieren unumgänglich, ebenso wie ein Verbot der Haltung und der Importe von Qualzuchten. Bei der Genehmigung von Stallneubauten seien auch bereits auf dem Markt befindliche Haltungssysteme auf die Umsetzbarkeit von mehr Tierschutz dringend zu überprüfen, bevor weitere Tierhaltungen in Betrieb gingen, die mit systemimmanenten Tierschutzproblemen behaftet und mit dem Tierschutzgesetz nicht vereinbar seien. Die Bundesministerin sei zudem gut beraten, für bereits als tierschutzwidrig erwiesene Haltungssysteme einen sofortigen Baustopp zu verfügen. Dies gelte insbesondere für den „Warmstall“ in der Schweinehaltung und den tierschutzgesetzwidrigen Kastenstand. Sollte die Bundesministerin weiter zögern, werde eine Nutztierstrategie nie greifen, weil dann zum Beispiel Neubauten von tierschutzwidrigen Systemen für die nächsten Jahrzehnte weiter in Betrieb wären.
Die Verbände weisen auf den enormen gesellschaftlichen Wunsch nach Veränderung hin, der nicht länger enttäuscht werden dürfe. Mit der Verlängerung der eigentlich schon ab Ende 2018 verbotenen betäubungslosen Kastration von Ferkeln um weitere zwei Jahre sei bei Tierschützerinnen und Tierschützern, aber auch in weiten Teilen der Gesellschaft bereits massiv Vertrauen in politische Verlässlichkeit verspielt worden. Frau Klöckner müsse endlich das Ende der Freiwilligkeit verkünden und sich auf ihre zentrale Aufgabe als Bundeslandwirtschaftsministerin konzentrieren: die tierschutzrechtlichen Vorgaben den gesellschaftlichen Erwartungen und den wissenschaftlichen Erkenntnissen anzupassen und die Weichen für einen Wandel zu mehr Tierschutz in der Landwirtschaft zu stellen. Das Tierschutzgesetz sei schon viel zu lange zu ausgeprägt ein Nutzgesetz- und eben kein Schutzgesetz für Tiere.