Vertikale Integration durch Einzelhandelskonzerne schreitet voran
Überlegungen zum Einstieg in Teile der Produktion gibt es schon länger. Aber bisher war (außer bei Fleischverarbeitung) der Lebensmitteleinzelhandel eher zurückhaltend. Nun scheinen die Konzerne ihre Scheu abzulegen. Die Coronazeit hat gezeigt, dass die Warenversorgung eben doch keine Selbstverständlichkeit ist. Zudem haben die Auseinandersetzungen mit vielen industriellen Herstellern um Listung, Preise und Aktionen die Achillesfersen des Handels offenbart. Monatelange Auslistungen oder Lieferboykotts großer Nahrungsmittelkonzerne wie Coca Cola, Unilever, Nestlé, Mars usw. haben zum Nachdenken geführt.
Lidl/Kaufland und Edeka strecken bereits seit Jahren die Fühler in die Produktion aus. Bei Mineralwasser (Lidl, Edeka), Säften (Edeka), Schokolade und Eis (Lidl/Kaufland) ist die vertikale Integration (von Produktion bis Verkauf in einer Hand) schon vorangeschritten. Nun will auch die Rewe Group, die sich bisher eher defensiv verhalten hat, stärker einsteigen, z.B. in die Herstellung von Nudeln. Außerdem stehen Gewürze und Säfte auf der Wunschliste. Mit der konzerneigenen Glocken-Bäckerei und dem Fleischwerk „Wilhelm Brandenburg“ ist man schon länger unterwegs, aber mit 1,1 Mrd. € Produktionswert noch abgeschlagen. Spitzenreiter ist Edeka mit 5,3 Mrd.€ Produktionsumsatz vor der Schwarz-Gruppe mit 3,4 Mrd.€.
Den größten Umsatz machen die Fleischwerke aus. Im Ranking führend ist das Werk von Edeka Südwest mit 975 Mio. € Umsatz vor Rewe (W. Brandenburg) mit 856 Mio.€ und Kaufland Fleischwaren mit 850 (Zahlen der Fleischerzeitung aus 2022). Nimmt man die regionalen Edeka-Fleischwerke zusammen, kommt man auf ca. 3,7 Mrd. €.
Banken: Nachhaltigkeit ist die Ökonomie von morgen
In Zeiten von Krisen und Inflation schieben sich aktuell Themen wie Gewinnoptimierung, Aktienkurse oder Investorendividende in den Vordergrund. Ökologische und soziale Belange, die in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen haben, werden dadurch in Frage gestellt bzw. zurückgehalten. So gerade Unilever, der sich gern als Vorreiter in Sachen Nachhaltigkeit präsentierte und tatsächlich mit ehrgeizigen Zielen aufwartete. Seine Ziele wie 50% weniger Neuplastik bis 2025, Schutz und Wiederherstellung von 1,5 Mio. ha Wäldern bis 2030 oder Halbierung der Lebensmittelabfälle sind erheblich eingedampft. Unilever hat nicht nur Nachhaltigkeitsziele kassiert, sondern auch noch Sparprogramme aufgelegt, weil Konkurrent Nestlé zuletzt bessere Zahlen lieferte. Aber auch Nestlé’s Aktionäre geben dem kurzfristigen Gewinn Vorrang. So stimmten sie zuletzt gegen eine Erhöhung des Anteils an gesunden Lebensmitteln, weil damit nicht genug Geld zu verdienen sei.
Sehr enttäuschend und viel zu kurz gedacht, jetzt bei Nachhaltigkeit die Aktivitäten zu senken, finden Investmentbanker. Ingo Speich, Anlagenexperte der Sparkassentochter Deka Investment, spricht in einem Interview mit der Lebensmittelzeitung von einem wichtigen Teil der Anlagenpolitik, der sich ökonomisch auszahlt. Nachhaltigkeitsaspekte spielen wg. EU-Vorgaben auch für mittlere und größere Unternehmen, ja selbst für Landwirte bei der Kreditvergabe eine wachsende Bedeutung. Je überzeugender das Konzept, desto bessere Chancen für gute Konditionen. Die Unternehmen müssten erkennen, dass der gesellschaftliche und ökologische Wandel eine Chance zur Zukunftssicherung beinhalte. „Wir beobachten eine Teilung in zwei Lager,“ erklärt Speich. Manchen sei Nachhaltigkeit sehr wichtig, andere ruderten kräftig zurück. Diese Gegenbewegung sei besonders in den USA vertreten. „Nach Ansicht der Kritiker wird der Klimawandel überbetont und hat in der Kapitalanlage nichts verloren. Die Nähe dieser Politiker zum Öl- und Gassektor ist augenscheinlich,“ so der Analyst. BP oder Shell argumentierten wie Unilever, dass der Klimaschutz nicht im Interesse der Anleger sei. Dagegen übe der Kapitalmarkt ein Gegengewicht aus, nachhaltige Ziele nicht zu vernachlässigen. In Deutschland seien die Unternehmen im internationalen Vergleich unterdurchschnittlich aufgestellt, „vor allem beim Thema Transparenz“. Speich: „Das ist am Ende ein Wettbewerbsnachteil.“
Open book: Lidl testet neues Schweinepreismodell in England
Die Versorgung mit Schweinefleisch ist in England nicht mehr gesichert. Das liegt einerseits daran, dass die ruinöse Entwicklung der Nach-Brexit-Krise die Landwirtschaft und besonders die Viehhalter getroffen hat. Immer mehr Landwirte denken ans Aufhören, auch weil die EU-Subventionen fehlen, die nicht wie versprochen national ausgeglichen werden. Die britische Schweinebranche ist schon lange kein Wachstumsmodell, brach im letzten Jahr um 13% ein und erzielt einen Selbstversorgungsgrad von ca. 75%. Als die größte Krise in der Geschichte des Schweinesektors bezeichnet es der Züchterverband. Jetzt hat sich zudem Lidl Großbritannien – wie in anderen europäischen Ländern – selbst verpflichtet, frisches Schweinefleisch nur noch aus heimischer Erzeugung anzubieten. Zur Absicherung der eigenen Versorgung will Lidl etwa 600 Mio. € in die Hand nehmen, um die gebeutelte Schweinefleischbranche zu stärken. Das Geld soll in Tierwohl- und Umweltschutzprojekte gehen, aber auch in ein Preismodell, mit dem die britischen Schweinehalter unterstützt werden sollen. Der Handelskonzern, der nach eigenen Angaben für 11% Marktanteil bei Frischfleisch steht, habe mit den Fleischkonzernen Cranswick und Pilgrim’s das „Lidl Pork Standard“-Programm entwickelt, um die Rohstoffbasis zukunftsfest zu machen. Damit geht man auch Formen der Vertragsgestaltung, der Vertikalisierung und neue Wege der Preisfindung an. Lidl bietet mit dem neuen Programm ein Open-Book-Kostenmodell für die Bauern an. Es beinhaltet die Kalkulation der Produktionskosten, garantiert Mindestmengen und feste Margen für die Erzeuger.
Das Open-Book-Verfahren, auch Accounting genannt, bezeichnet die Offenlegung von Kosteninformationen und Angebotskalkulationen und soll die Partnerschaft zwischen Abnehmern und Lieferanten stärken – aber nur wenn die gesamte Lieferkette einbezogen ist. Oft werden nur die „offenen Bücher“ der Lieferanten durchleuchtet, um die Produktion für die Einkäufer transparenter und effizienter werden zu lassen.
Die Interessengemeinschaft der Schweinehalter Deutschlands (ISN) „verfolgt das Geschehen mit großem Interesse,“ teilt Geschäftsführer Torsten Staack mit. Es biete Chancen für die Erzeuger, aber die Risikoverteilung und die Marge müsse erst vor der Vertragsbindung geklärt werden.
Für den Marktbeobachter hört sich das dann spannend und neuartig an, wenn die Transparenz auch den Handel und dessen Marge einbezieht. Erst dann wird es eine Geschäftsbeziehung auf Augenhöhe. Sonst ist es eher eine einseitige Chance für die Abnehmer, die Lieferanten zu „optimieren“. Es wird sich noch zeigen, ob der Einzelhandel auch seine Bücher, Kalkulationen usw. offenlegt. Aufpassen ist geboten, sonst ist man schnell in der vertikalen Integration und der Vertragsmast gelandet. Dann liegen alle Bücher offen – für den Integrator.
Übrigens: Laut Lidl sei es kein Vorbild für Deutschland.
(Kein) Run auf die Tierwohlförderung
Kaum acht Wochen nach Beginn der Antragstellung für Investitionen in der Schweinehaltung im Rahmen des Bundesprogramms zeigen sich erste Ergebnisse. Nach Aussagen des Vertreters des BMEL Dr. Snell auf einer Veranstaltung auf Haus Düsse (NRW) gab es bis dato 75 Anträge auf Bauförderung. Davon kamen u.a. ein Viertel aus Niedersachsen, 15 aus Bayern, 14 aus Baden-Württemberg. Im Durchschnitt beläuft sich das Investitionsvolumen auf 1,25 Mio.€. pro Betrieb. Damit wäre schon ein erheblicher Teil der Gesamtfördersumme für Investitionen – je nachdem, ob man von 75 Mio. oder 100 Mio.€ in 2024 ausgeht - beantragt. Dennoch ist noch viel Luft nach oben, weil Antrag, Rechnungslegung und Auszahlung zeitlich nicht übereinstimmen können.
Schon streiten sich die verschiedenen politischen Lager, ob dieses Zwischenfazit ein „Erfolg“ (BMEL) oder Ausdruck eines fehlerhaften Programms ist. Kein Run auf die Förderung, titulieren mehrere Fachzeitschriften. Wenn man bedenkt, dass in 2022 insgesamt laut BMEL genau 59 Anträge auf Schweinestallbauten im AFP bewilligt wurden, halten andere Marktbeobachter den Zwischenstand für beachtlich.
Die Antragstellung für eine Förderung der laufenden Mehrkosten beginnt am 4. Juni. Antragsteller müssen einer Erzeugergemeinschaft angehören oder an einem Kontrollsystem teilnehmen.
Ein großes Ärgernis ist in vielen Bundesländern die fehlende Umsetzung des Tierhaltungskennzeichnungsgesetzes, die den Ländern obliegt. Denn bis 1. August müssen alle Betriebe ihre Ställe gemeldet haben, damit sie in Zukunft korrekt in den unterschiedlichen Stufen registriert werden. Einige Länder wie NRW oder auch Bayern machen aber keine Anstalten zu klären, an welche Behörde sich der Schweinehalter wenden muss. Minister Özdemir fürchtet, dass einige CDU-geführte Länder das Gesetz „zum Schaden der Bauern vor die Wand laufen lassen wollen“.
Ärgerlich ist auch, dass einige Bundesländer wie Niedersachsen, BaWü, NRW und andere ihre eigenen „Tierwohlprogramme“ wegen befürchteter Doppelförderung auslaufen lassen wollen. Bayern will sein Programm wohl „aus eigener Tasche zahlen“. Damit würde den Schweinehaltern letztlich weniger Invest-Geld als vorher zur Verfügung stehen.