Ein Jahr nach Alt Tellin: Mit dem Thema Bestandsobergrenzen auseinandersetzen

Ein Jahr nach der Brandkatastrophe in Europas größter Ferkelzuchtanlage im mecklenburg-vorpommerschen Alt Tellin, bei dem über 50.000 Tiere starben, sind erneut Forderungen nach einem bundesweit verbesserten Brandschutz in der Tierhaltung erhoben worden. So fordert die Agrarministerkonferenz (AMK) mit Blick auf den Brandschutz den Bund auf aktiv zu werden, um zu verhindern, dass sich Stallbrände mit ihren katastrophalen Folgen für Tier und Mensch wiederholen. Für die Grünen „braucht es zeitnah eine klare und verbindliche Rechtsverordnung, die die Tiere schützt und nicht die Profitinteressen der Eigentümerinnen und Eigentümer“. Der Tierschutzbund fordert ein Verbot von Mega-Tieranlagen. Der Landesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (LBU) Niedersachsen begrüßt den AMK-Beschluss, fordert darüber hinaus jedoch einen „sofortigen und bundesweiten Agrarfabriken-Genehmigungs-Stopp“. Und für Mecklenburg-Vorpommerns Landwirtschaftsminister Till Backhaus (SPD) passen „industrielle Tierhaltungsanlagen wie in Alt Tellin nicht in unser Land und nicht in diese Zeit“, weshalb er unter anderem anregt zu prüfen, „ob eine Größenbeschränkung von Tierhaltungsanlagen als wesentliche Maßnahme des Tier- und Seuchenschutzes wettbewerbsneutral eingeführt werden kann“.

LBU begrüßt die Schlussfolgerungen der Agrarministerkonferenz

Der LBU begrüßt die Schlussfolgerungen der Agrarministerkonferenz (AMK) zum „Handlungsbedarf aufgrund von Brandvorfällen in großen Tierhaltungsbetrieben“. Darin werden laut LBU - aufgrund der Ergebnisse einer ad-hoc-Arbeitsgruppe - in folgenden drei Bereichen Verbesserungen beim Brandschutz bei großen Ställen als notwendig vorgeschlagen: Bei der baulichen Konzeption (Feuerfestigkeit von Bauteilen, Anordnung von Feuerschutzwänden), bei der technischen Ausstattung der Anlagen (Brandmeldeanlagen, Rauch- und Wärme-Abzugsanlagen, automatische Löschanlagen und deren Wartung) sowie im Betriebsmanagement (Havariekonzepte und Notfallpläne). Der LBU unterstützt diese Schlussfolgerungen zur wirksamen Brandvorbeugung, Brandbekämpfung und Tierrettung und auch die Aufforderung der AMK an die Bau- und Innenministerkonferenz, eine bundes-einheitliche Brandschutz-Regelung zu prüfen.
Laut LBU-Vertreter Eckehard Niemann ist es eine unerträgliche Situation, dass jährlich Hunderttausende von Tieren in großen Tierhaltungsanlagen verbrennen müssten - und zwar vor allem auch wegen unzureichender Brandschutz-Vorgaben bei deren früherer Bau-Genehmigung. Selbst die Ursachen für den Brand in Alt-Tellin vor einem Jahr seien bis heute nicht ermittelt.
Bei Agrarfabriken bspw. mit mehreren parallelen Stallabteilen, die mehr als 100 Meter lang seien und lediglich durch 10 bis 15 Meter Abstand voneinander getrennt, könnten die Feuerwehren nicht zwischen diese Stallabteilungen gelangen und weder Tiere retten noch Flammen löschen. Hinzu komme, dass die in diesen Großanlagen gehaltenen Tiere nie die Ställe verlassen konnten und dies auch im Brandfall nicht als Fluchtverhalten kennen würden. Trotz der Einwendungen der im LBU organisierten Bürgerinitiativen gegen mangelhaften Brandschutz würden von den Genehmigungsbehörden immer noch derartige Ställe zugelassen.       
Deshalb, so der LBU, sei jetzt ein rasches und bundesweites Moratorium bei der Genehmigung neuer Groß-Anlagen unabdingbar und von den Bundesländern sofort ihren Landkreisen und Landesbehörden vorzugeben. Es dürften ab sofort keine agrarindustriellen Anlagen mehr genehmigt werden, deren Tierzahlen die Grenzen des Bundesimmissionsschutzgesetzes für industrielle Anlagen überschreiten (1.500 Mastschweine, 560 Sauen, 30.000 Masthühner, 15.000 Legehennen bzw. Mastputen oder 600 Rinder). Allein schon wegen der Dimensionen solcher Agrarfabriken sei die laut Bauverordnungen vorgeschriebene Rettung der Tiere im Brandfall unmöglich – deshalb müssten diese Größenordnungen nun rasch auch generell als Obergrenzen für Baugenehmigungen im Baugesetzbuch festgeschrieben werden.   

Tierschutzbund fordert „Verbot konventioneller Mega-Anlagen“

Der Deutsche Tierschutzbund und sein Landesverband Mecklenburg-Vorpommern kritisieren, dass die Politik bislang keine konkreten Konsequenzen nach der Katastrophe ergriffen hat. Sie fordern ein Verbot konventioneller Mega-Anlagen, aus denen Tiere im Brandfall niemals realistisch evakuiert werden können.
"Das Horrorszenario von Alt Tellin mit zehntausenden verbrannten und erstickten Sauen, Ferkeln und Ebern wurde durch unzureichende Brandschutzmaßnahmen billigend in Kauf genommen. Dass diese Katastrophe offensichtlich nicht der Weckruf war, der es hätte sein müssen, ist unglaublich bitter. So etwas darf nie wieder geschehen!", sagt Kerstin Lenz, Vorsitzende des Deutschen Tierschutzbund Landesverband Mecklenburg-Vorpommern. Thomas Schröder, Präsident des Deutschen Tierschutzbundes, ergänzt: "Wir brauchen eine Agrarwende, die sich an den Bedürfnissen der Tiere orientiert. Dazu gehören neben deutlich geringeren Bestandszahlen mehr Bewegungsfreiheit und Ausläufe, was auch dem Brandschutz zu Gute käme."
Fixierung und hohe Tierbestände machen Rettung unmöglich
Die Tiere in Alt Tellin hätten eine deutlich höhere Überlebenschance gehabt, wenn die Haltung über Ausläufe verfügt hätte. Stattdessen waren viele Sauen in Kastenständen fixiert und so Flammen und Rauch hilflos ausgeliefert. Hinzu kommt, dass bei großen Beständen ein Austreiben der panischen Tiere im Brandfall kaum möglich ist. Die Tierschützer fordern daher ein Ende der Kastenstandhaltung. Gleichzeitig müssten wirksame Brandpräventions- und -schutzmaßnahmen verpflichtend werden, etwa automatische Brandmelder, feuerfeste Materialien und Feuerschutztüren, Brandmauern, nach außen aufschlagende Fluchttüren, Sprinkleranlagen und eine ausreichende Löschwasserversorgung. Das Flammeninferno von Alt Tellin sei nur ein besonders schreckliches Beispiel für etwas, das leider ständig passiere: 5.000 Brände ereignen sich nach Angaben des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft in deutschen Tierhaltungsanlagen jedes Jahr, das sind durchschnittlich 14 Brände am Tag.
Strafanzeige gegen Betreiberfirma
Die Megaanlage in Alt Tellin war 2010 genehmigt worden - trotz massiver Bedenken gegen das Brandschutzkonzept und einer vom Deutschen Tierschutzbund unterstützten Klage des BUND. Nach dem Brand 2021 stellte der Tierschutzbund gemeinsam mit dem BUND, der AbL und Greenpeace Strafanzeige und einen Strafantrag gegen die LFD-Holding, welche die Anlage betreibt. Beides wird aktuell geprüft. Die Anzeige richtet sich ebenfalls gegen "unbekannt", weil auch Aufsichts- und Genehmigungsbehörden eine wirkungsvolle Brandbekämpfung und Tierrettung nicht sichergestellt hätten. Laut einem Gutachten scheidet ein technischer Effekt als Brandursache mittlerweile aus. Das Feuer kann somit nur fahrlässig oder vorsätzlich entstanden sein. Die Ermittlungen laufen weiter.

Backhaus: Konsequent mit dem Thema Bestandsobergrenzen auseinandersetzen

In einer Bilanz „Ein Jahr nach dem Großbrand in Alt Tellin“ und um ein Umdenken in der Tierhaltung zu erreichen, ist Landwirtschaftsminister Till Backhaus nach eigenen Angaben auf mehreren Ebene aktiv geworden. Dazu zählt er auch die von ihm im Mai 2021 gestartete Bundesratsinitiative zur Einführung von Tierobergrenzen in Tierhaltungsanlagen. „Auch wenn sich die Schutzkonzepte für Tierhaltungsanlagen über die Jahre immer weiter verbessert haben: Die jüngsten Ereignisse machen deutlich, dass bei einem Versagen von Schutzkonzepten mitunter katastrophale Tier- und Wertverluste zu beklagen sind. Deshalb muss geprüft werden, ob eine Größenbeschränkung von Tierhaltungsanlagen als wesentliche Maßnahme des Tier- und Seuchenschutzes wettbewerbsneutral eingeführt werden kann“, so Backhaus. In der daraufhin erfolgten Entschließung des Bundesrates vom Juni 2021 fordert dieser die Bundesregierung unter anderem auf, die Möglichkeit der Größenbeschränkungen für Tierhaltungsanlagen, insbesondere aus Tierseuchen- und Brandschutzgründen, zu prüfen und bei positivem Ergebnis wettbewerbsneutral einzuführen“ und „eine regionale, flächenbezogene und ökologisch vertretbare Begrenzung des Viehbesatzes mit Nutztieren zu prüfen“.

Auch in einer Protollerklärung zur AMK in der vergangenen Woche bitten die Länder Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Sachsen, Schleswig-Holstein, die unter grüner und einer parteilosen Führung der jeweiligen Agrarressorts stehen, den Bund für Neugenehmigungen von Tierhaltungsanlagen Größenbeschränkungen zu prüfen.

Es muss laut der jetzt vorgelegten Backhaus-Bilanz darum gehen, Brandvorbeugung, Brandbekämpfung und Tierrettung zusammenzudenken. Der Stall der Zukunft werde ganz sicher anders aussehen als die Anlage in Alt Tellin. Das sei auch im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung so verankert. Damit der Weg hin zu mehr Tierwohl, qualitativ hochwertigen Produkten und bezahlbaren Lebensmittelpreise konsequent weitergegangen werden könne, müssen nach Ansicht von Backhaus folgende Aufgaben angegangen werden:

  • Die Baugesetzgebung muss so verändert werden, dass sich eine Katastrophe wie in Alt Tellin nicht wiederholen kann.
  • Die Bundesregierung muss sich konsequent mit dem Thema Bestandsobergrenzen auseinandersetzen und bundesweit einheitliche Regelungen herbeiführen.
  • Ebenso sollte die Bundesregierung die regionale Begrenzung des Viehbesatzes auf einen ökologisch vertretbaren Wert von zwei Großvieheinheiten pro Hektar prüfen, um künftig eine nachhaltige umweltverträgliche Wertschöpfung in vielen Regionen zu ermöglichen und überregionale Transporte von organischen Düngern aber auch übermäßig lange Tiertransporte zu verhindern.
  • Haltern, die in der Schweinehaltung keine Perspektive mehr sehen, müssen solide Angebote gemacht werden (Herauskaufprogramme).
  • Die moderate Reduktion der Schweinehaltung sollte zunehmend als CO2-Senke begriffen werden und zentraler Bestandteil der Klimaschutzpolitik des Bundes und der Länder sein.
  • Die Bekämpfung der Afrikanischen Schweinepest muss weiter konsequent durchgeführt werden, damit der Schweinemarkt nicht noch weiter unter Druck gerät.
  • Der Bund muss ein staatliches Investitionsprogramm zur artgerechten Tierhaltung auf den Weg bringen.
  • Der Bund muss sowohl ein staatlich verbindliches Tierwohllabel, als auch eine staatlich verbindliche Herkunftsbezeichnung (Aktion „5D“) etablieren.
  • Der Bund muss ein Beschleunigungsgesetz zum Umbau der Tierhaltung auf den Weg bringen.

„Die Forderungen machen deutlich, dass wir grundlegende Veränderungen in diesem Bereich brauchen, für die ich mich weiterhin mit viel Energie einsetzen werde. Neue gesetzliche Rahmenbedingungen müssen aber auch – und das ist gut und richtig so – in einem demokratischen Prozess herbeigeführt werden. Das geht nicht von heute auf morgen“, so Minister Backhaus.