Wertschöpfungsketten im Krisenmodus

Beginnen wir beim Jungbauern Jan Gonne Thams von Pellworm. Er hat dieses Jahr richtig Glück gehabt mit dem Wetter – und genauso mit den gefräßigen Wildgänsen. In den vergangenen drei Jahren waren die Überschwemmungen und Dürreperioden besonders lang. Das Land stand oft bis April unter Wasser, und dann kam monatelang kein Regen. Außerdem bleiben die Wildgänse seit einigen Jahren zu zehntausenden von Oktober bis April auf der Insel und grasen alles ab. Wintergetreide geht deshalb gar nicht mehr. Diesen Sommer haben die Wildgänse Jan Gonnes Getreide aber in Ruhe gelassen, vielleicht weil die Bestände besonders hoch stehen. Dort hinein landen sie ungern.

Jan Gonne versucht sich seit zwei Jahren an der ökologischen Saatgutentwicklung und Vermehrung. Er hat inzwischen eine hochwachsende Landsorte von Roggen aus Schweden, eine Weizen-Population aus Dänemark und Dinkel vom Mönchhof in Hessen ausprobiert, insgesamt auf zwölf Hektar. Der Anfang war hart mit geringen Erträgen und Zweifeln, ob es denn überhaupt klappt. Dieses Jahr aber macht Hoffnung. Die Bestände waren gesund und die Ernte war gut. Die Freien BäckerInnen aus Hannover kamen zur Ernteschau und waren begeistert.

Jetzt aber ist Krise

Nur – jetzt ist gerade Krise. Der Dinkelpreis ist kräftig gefallen und der Umsatz im Bio-Geschäft ist drastisch gesunken, durchschnittlich um die 25 Prozent. Viele Bäcker sind mit den steigenden Energiekosten am Limit. Kleine Mühlen, die Biogetreide verarbeiten, haben das gleiche Problem. Und die VerbraucherInnen sparen – bei Aldi und Lidl. Das schlägt nun zurück auf den Erzeugerpreis für Biogetreide. Zum Glück hat Jan Gonne inzwischen eine eigene Reinigungs- und Sortiermaschine und er hat Lagermöglichkeiten. Er kann also noch warten. Das können nicht alle.

Abgeschöpft

Die Wertschöpfungskette vom Bauern zum Verbraucher schöpft in der Krise jetzt andersherum. Sie lässt Gewinne aus der Qualitätserzeugung über explodierende Energiepreise und Inflation zu den Energiekonzernen abfließen, die zum Teil exorbitante Übergewinne einfahren. Das bringt besonders kleinere handwerkliche und bäuerliche Strukturen ohne finanzielle Puffer direkt in existentielle Not. Die Krise trifft vor allem diejenigen, die sich auf unterschiedliche Weise in den vergangenen Jahrzehnten in zusammenhängenden lokalen und regionalen Strukturen um Resilienz in der Lebensmittelerzeugung gekümmert haben.

Staatliche Hilfen konzentrieren sich jetzt auf die sogenannten systemrelevanten Industriesektoren. Wie wäre es mit einer Abschöpfung der Übergewinne von Harry-Brot, Aldi und Lidl, den Kriegsgewinnern im Nahrungsmittelgeschäft? Und staatliche Förderung von dezentralem Infrastrukturaufbau statt Rabatte für fossile Energie von gestern. Ein dezentrales, klimaneutrales Ernährungssystem ist systemrelevant. Jetzt!

Ohne staatliche Hilfen und ein beherztes Umsteuern in der ländlichen Strukturpolitik werden die mühsam aufgebauten lokalen und regionalen Lebensmittelversorgungsstrukturen keine Zukunft haben. Schon während der Pandemie war deutlich geworden, wie anfällig die zentralen Lebensmittelverteilersysteme sind und wie schlecht vor allem ländliche Gebiete in Krisenzeiten versorgt werden. Der Umbau hin zu integrierten, dezentralen, energiesparenden Fazilitäten für Trocknung, Lagerung und Verarbeitung von landwirtschaftlichen Produkten vor Ort und die sichere Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln muss jetzt geschehen, sonst wird es in vielen Regionen Europas – auch in Deutschland – in kürzester Zeit einen massiven Konzentrationsprozess im Ernährungssektor geben. Auch der falsche Ansatz beim Carbon Farming trägt dazu bei.

Die ZüchterInnen, BäuerInnen, Mühlen, BäckerInnen, der Handel vor Ort und die bewussten VerbraucherInnen müssen jetzt zusammenhalten, damit die Wertschöpfungskette nicht reißt. Niemand darf sich jetzt aus der Bewegung ausklinken und auf den eigenen Vorteil bedacht sein. Das gilt für die Vertretung des ökologischen Landbaus genauso wie für die Naturschutzverbände, die sich gerne als alleinige Akteure der Agrarwende darstellen.

Business as usual ist Rückschritt

Vor allem aber ist jetzt die deutsche Agrarpolitik gefordert. Sie hat bisher bei den strategischen Plänen der GAP und bei der ländlichen Strukturentwicklung „Business as usual“ laufen lassen. Die Pläne der Klöcknerschen Vergangenheit wurden, angeführt von einem mutlosen BMEL, aber auch wegen Bedenkenträgern in den Länderregierungen und der Agrarministerkonferenz kaum verändert. Obwohl es gute Vorschläge für gerechtere Bedingungen für kleine und mittlere Betriebe in der Landwirtschaft und im vor- und nachgelagerten Bereich gab und die Notwendigkeit, die Leistungen des Grünlandes z. B. durch eine Weideprämie in den Öko-Regelungen zu honorieren, längst bekannt ist, wurde die Gelegenheit verpasst, den Nationalen Strategischen Rahmenplan anzupassen.

Die EU-Kommission hatte nach der Bundestagswahl und der Neubesetzung des Landwirtschaftsministeriums mit deutlichen Änderungen aus Deutschland gerechnet, sah sich aber vor der Sommerpause genötigt, erhebliche Nachbesserungen zu fordern Die grüne Hausleitung wäre gut beraten, jetzt eine integrierte Agrar- und ländliche Strukturpolitik im Sinne der Ergebnisse der Zukunftskommission Landwirtschaft und der ländlichen Entwicklungsinitiativen in Angriff zu nehmen und somit die angekündigte Agrarwende endlich einzuleiten.

Zeit für Züchtung

Schauen wir jetzt bei den Züchtern vorbei, die sich seit Jahrzehnten für eine ökologische, bäuerliche, klimaangepasste Landwirtschaft einsetzen. Sie haben in Deutschland vor kurzem den Dachverband für ökologische Pflanzenzüchtung gegründet (https://www.dv-oekopz.org), um sich gegenüber den zuständigen Behörden und gegen die marktbeherrschenden Saatgutunternehmen in der breiten Öffentlichkeit besser Gehör zu verschaffen.

Züchtungsarbeit ist zeitaufwendig und kostet viel Geld, ohne kurz- oder mittelfristig ein berechenbares Einkommen zu gewährleisten. Die Sortenentwicklung dauert zehn bis 15 Jahre, für mehrjährige Kulturen auch länger. Eine Refinanzierung der ökologischen Züchtungsarbeit alleine aus den Einnahmen aus Züchterrechten ist nicht möglich, auch weil für die unterschiedlichen Anforderungen im ökologischen Landbau eine große Sortenvielfalt erforderlich ist. Der Entwicklung dieser Vielfalt haben sich ökologische Züchter:innen verschrieben. Bisweilen aber wird ökologischer und klimarelevanter Züchtung von der konventionellen Nomenklatur der Kampf um die wissenschaftliche Hoheit angesagt.

Die Ausschreibung zur Züchtungsförderung des Bundesprogramms Ökologischer Landbau (BÖL) in diesem Frühjahr erfolgte ohne klare Priorisierung der ökologischen Züchtung und ohne die ökologische Züchtung so zu definieren, wie sie in der EU-Ökoverordnung festgelegt ist. Zwar ist Gentechnik ausgeschlossen, aber gefördert werden müsste explizit eine Züchtung, die unter ökologischen Bedingungen erfolgt, sich an den Herausforderungen des Klimawandels orientiert und mit Methoden arbeitet, die mit dem ökologischen Landbau und der ökologischen Züchtung kompatibel sind. Ansonsten werden einfach die üblichen Akteure die Mittel abschöpfen, die in der ökologischen Züchtung so dringend benötigt werden.

Krise als Chance

Ist die Krise die Chance? Sie ist es – aber nur dann, wenn Berufsverbände, kleine und mittlere Unternehmen und die Zivilgesellschaft jetzt an einem Strang ziehen und die nötige politische und finanzielle Unterstützung bekommen, um die dringenden strukturellen Veränderungen jetzt auf den Weg zu bringen, wie sie im Green Deal, der Farm-to-Fork-Strategie und der Biodiversitätsstrategie zumindest ansatzweise dargelegt wurden. Business as usual bis 2027 wäre fatal. Die Pandemie und der Krieg haben gezeigt, dass es Mittel und Wege gibt, um die Energiewende unmittelbar in Gang zu setzen. Zur Agrar- und Ernährungswende gehören jetzt Investitionen in eine dezentrale Infrastruktur, die bäuerliche, handwerkliche und kooperative Betriebe und Projekte entlang der Wertschöpfungskette unterstützen.

03.11.2022
Von: Hannes Lorenzen, Vorsitzender der Agricultural and Rural Convention, ARC2020