Relevante Systemkritik
Das Timing stimmte. Als die Republik vorsichtige Lockerungsübungen versuchte und die Corona-News-Ticker nicht mehr im Minutentakt neue Nachrichten zu vermelden hatten, erreichte die Coronakrise der Fleischindustrie ihren Höhepunkt. Nachdem zuvor bereits Mitarbeiter in Schlachtbetrieben von Müller in Baden-Württemberg und von Vion in Schleswig-Holstein erkrankt waren, ereilte es Westfleisch. Eine Woche, nachdem die ersten Mitarbeiter im Schlachthof im nordrhein-westfälischen Coesfeld positiv auf Covid-19 getestet waren, schloss nicht etwa der zuständige Landrat, sondern der Landesgesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) den Betrieb. Aufgrund der gerissenen Obergrenze von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner musste der Landkreis geplante Lockerungen wie beispielsweise die Öffnung von Restaurants um eine Woche verschieben. „22.000 Einwohner im Landkreis sind in Mithaftung genommen worden“, sagt der grüne Agrarsprecher im Bundestag, Friedrich Ostendorff, und redet damit über seinen Wahlkreis. Ein Landrat, der sich die Entscheidung über die Schließung nicht zutraut, und stattdessen bei Westfleisch fragt, was er tun soll. Ein Unternehmen, das offenbar erst sein Hygienekonzept nicht umsetzt und dann die Schließung hinauszögert, obwohl im genossenschaftlichen Aufsichtsrat Menschen sitzen sollten, die die ganze Dimension überblicken. Coesfeld hatte das „Pech“ des Timings, in der Sehnsucht nach Lockerungen auch zum politischen Wendepunkt zu werden. Danach kamen noch Wiesenhof-Betriebe in Bayern, ein weitere Westfleisch-Betriebe in NRW und Niedersachsen, Vion-Schlachthöfe knapp hinter der deutsch-niederländischen Grenze. Dabei kennen Politik und Interessierte die Situation seit langem: Kommunal- und Wirtschaftsvertreter, die nicht nur in Coesfeld zu eng mit solchen großen Unternehmen im Ort verbandelt sind – es geht um Arbeitsplätze, um Geld für den Sportplatz, etc. –, um Entscheidungen zu treffen und Kontrollen durchzuziehen. Als jetzt die vielen ausländischen Arbeitnehmer in Quarantäne geschickt werden sollten, wusste das Gesundheitsamt, wo alle wohnen. Als Wochen zuvor Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) die Kontrolle der Unterbringung ausländischer Arbeitnehmer von den Kommunen intensivieren lassen wollte, weigerten Landkreise mit der Begründung, es gebe ja nur noch private Wohngemeinschaften, die man nicht mehr kenne und nicht mehr kontrollieren dürfe. Es wurde immer viel weggeguckt und wenig Verantwortung übernommen. Werkverträge ohne abgegrenzt definiertes Werk, geschlossen mit auch noch verschiedenen Subunternehmern – eigentlich konnte jeder sehen, was dürftig verschleiert wurde. Ab dem Corona-März trugen dann die Schlachtindustrie und auch die sie umgebenden offiziellen Vertreter den Begriff der Systemrelevanz wie einen schützenden Panzer vor sich her. Er schützte am Ende weder vor dem Virus noch vor grundsätzlichen staatlichen Interventionen im lange schon nicht mehr zukunftsfähigen System.
Fluktuation
„Mir sagten die Leute, dass sie keine Lust mehr haben. Sie sollten noch mehr arbeiten, Sonderschichten schieben, die Bedingungen wurden nicht besser“, berichtet Szabolcs Sepsi, der als Mitarbeiter des Gewerkschaftsprojektes „Faire Mobilität“ schon seit Jahren immer wieder mit den Arbeitsmigranten im Gespräch ist. Das System der Fleischindustrie – so sagt es Sepsi – baue auf Fluktuation, darauf, dass auch Rumänen und Bulgaren nicht unbegrenzt in desolaten Wohnverhältnissen hausen und gesundheitsgefährdende Knochenjobs schieben wollen. Diesem System wurde durch die geschlossenen Grenzen der Nachschub entzogen. Gleichzeitig kam in der Corona-Anfangszeit der Hunger der Menschen nach Klopapier und Schnitzeln. Die Systemrelevanz gaukelte Immunität vor, auch als Donald Trump in den USA schon per Dekret verfügte, dass die auch dort mit Corona-Infektionen belasteten Fleischfabriken weiter laufen müssen. Auch in Frankreich und Holland wurden Erkrankungen gemeldet, Werke zum Teil geschlossen. Schlachtbänder langsamer zu stellen, um Mitarbeitern Mindestabstände und damit minimale Corona-Prävention zu gewährleisten, hätte die Produktion reduziert – das schien mindestens in der heißen Phase des Lockdown mit den in die eigenen Küchen verdammten Menschen kein politisch-gesellschaftlicher Konsens.
In Sippenhaft
Dass es ausgerechnet den Größten der Branche, Tönnies, nicht traf, ist am Ende vermutlich vor allem Glück. Seine Aussage, wie auch die anderer Interessenvertreter, es gehe doch nur um einzelne schwarze Schafe und es dürfte nicht die ganze Branche in Sippenhaft genommen werden, wirken schal angesichts der nicht neuen Kritik an den Zuständen und der Vielfalt der aktuellen Corona-Standorte. Wenn Tönnies jetzt als Sieger vom Platz ginge, wäre das eine völlig falsche Entwicklung, sagt der Grüne und Bauer Ostendorff. Daran, dass der Betreiber von Deutschlands größtem Schlachthof zur Rettung der Werkvertragsregelung die Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro angeboten habe, sehe man doch, so Ostendorff, wie viel Marge für ihn da drin sei. „Schließlich ist Tönnies nicht beim Sozialamt tätig.“ Ostendorff hofft aber, dass die von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil eingebrachte Initiative zum Gesetz wird. „Das ist jetzt die große Stunde der Lobbyisten, und wir wissen ja alle, dass keine Gesetzesinitiative so den Bundestag verlässt, wie sie reingegangen ist.“ Gleichzeitig verlasse er sich auf die Äußerungen von Heil und der Kanzlerin, die unsäglichen Zustände durch das Verbot der Werkverträge beenden zu wollen. Traut sich die Politik nun, was die Branche lange zur verhindern vermochte? Auch Gewerkschafter Sepsi ist vorsichtig optimistisch, zumal das immer wieder angeführte Argument von der Abwanderung der Schlachtindustrie nicht verfangen dürfte. Die westlichen Nachbarländer hätten höhere Lohnkosten, die Abwanderung habe längst anders herum von Vion und Danish Crown nach Deutschland stattgefunden, noch vor 20 Jahren sei das Lohnniveau zwischen Dänemark und Deutschland etwa gleich gewesen, nun sei es in Deutschland nur noch halb so hoch. Schweine würden dort geschlachtet, wo sie auch gemästet würden, sagt Sepsi. Das sagt auch Ostendorff, weist aber auch darauf hin, dass ein Teil der Hähnchenschlachtung nach Polen wandern könnte, gleichzeitig würden kleinere Schlachtbetriebe in Deutschland, die meist noch mit eigenen Angestellten arbeiteten und höhere Kosten hätten, eher gestärkt. Anstatt das alte System mit Zähnen und Klauen zu verteidigen, so Ostendorff, sollte die Schlachtindustrie endlich den Weg für Reformen frei machen. Das System der Werkverträge bedeute Unsicherheit, mangelnde Verantwortung und Fluktuation, sagt auch Szabolcs Sepsi. Natürlich sei es aufwendig und teurer, wenn die Betriebe selber Mitarbeiter rekrutieren müssen, langfristig könnten sich eine geringere Fluktuation und die bessere Reputation und Kontrolle aber auch bezahlt machen.
Mangelnde Vielfalt
Und die Bauern und Bäuerinnen? Als Schlachthöfe coronabedingt schließen mussten, ging die Sorge um, die schlachtreifen Tiere nicht mehr oder nur mit Abschlägen verkaufen zu können. Das drückt besonders, wenn die Preise durch den Einbruch des Chinamarktes sowieso schon schlecht sind. Aber rechtfertigt das, als Landesbauernverband zur Schließung des Betriebs in Coesfeld kein Wort über die miserable Lage der Arbeiter zu verlieren? Weder die in Deutschland entstandenen Verarbeitungs- und Vermarktungsstrukturen, die Machtkonzentration, die mangelnde Vielfalt, die Überschussproduktion und Exportorientierung noch die Politik, die all das gefördert hat, sorgen dafür, dass Bauern und Bäuerinnen angemessen für ihre Arbeit bezahlt werden. Das ist zu kritisieren und wird von der AbL seit Jahren angeprangert. Sich deswegen aber nicht mit Fragen des Tierwohls, des Umweltschutzes oder eben auch der Behandlung von Arbeitskräften in der Verarbeitungsindustrie zu befassen, sorgt zu Recht für gesellschaftliche Kritik.