Neue Wege suchen

Vor fünfundzwanzig Jahren gab es in unserem Stadtteil Kassels fußläufig erreichbar noch drei Bäckereien und drei bis vier Metzgereien. Heute sind dort: ein Tatoostudio, ein Tanzstudio, ein Architekturbüro, ein Frisör und ein Hundefutterladen. Wir kaufen Fleisch bei Tegut oder holen uns das Biofleisch direkt vom Landwirt. Oft backe ich Brötchen selbst oder hole das Brot vom Biobäcker auf dem Wochenmarkt am Freitag. Manchmal fühle ich mich schuldig: Auch ich hatte zu selten eingekauft bei den Metzgern und Bäckern. Wir haben weniger Fleisch gegessen oder wollten andere Qualitäten – ich erinnere mich nicht mehr so genau, wann das angefangen hat und wann genau diese Lebensmittelhandwerker mangels Nachfolger oder mangels Rendite die Ladentüre geschlossen haben. Die jährlichen Geschäftsberichte der Bäcker- und Fleischerverbände bestätigen Jahr für Jahr den Rückgang der Geschäfte, die Zunahme von Filialen und Großbäckereien, das Schließen der lokalen Schlachthöfe (dieses Jahr auch in Kassel). Wir stemmen uns dagegen – politisch und mit Initiativen der Regionalentwicklung, mit Programmen wie Neuland, die den Metzgern eine neue und zukunftsweisende Marktchance geben wollen. Zu wenig Umsatz, zu wenig Nachfrage, keine Nachfolger, keine Fachkräfte und in den Berufsschulen wird das Schlachten, das Nadelöhr regionaler Vermarktung, nicht mehr unterrichtet. Zugleich hohe Kosten. Erst unlängst haben in fast allen Landkreisen Hessens die Landtage beschlossen, dass die Fleischbeschaugebühren kostendeckend und damit für kleine Unternehmen um ein Vielfaches höher sein sollen als für die umsatzstarken Unternehmen. Höhere Energiekosten – die großen Unternehmen können sich von den Zusatzkosten des Energieeinspeisegesetzes befreien lassen, die kleinen nicht. Höhere Personalkosten, da kein Rückgriff auf unterbezahlte Werkvertragsnehmer stattfindet, sondern ordentlich ausgebildete Gesellen angestellt werden. Wenig Umsatz, da auch auf dem Land die Verbraucher gerne die unter Schutzfolie verpackten Sonderangebote der Supermärkte und Discounter kaufen und nur in den Städten eine Kundschaft lebt, die mit entsprechenden Einkommen das Fleisch lieber edel, tierwohlgeschützt und ausgereift haben will und das Brot mit dreifacher Natursauerteigführung. Das reicht nicht für den Erhalt der Branchen, auch wenn deren Zeitungen seit Jahren die neuen Trends von Regionalität und Tierwohl oder Natursauerteigführung ihrer Leserschaft schmackhaft machen wollen. Ich bin ratlos. Ich trage eine Mitschuld. Ich habe dort nicht mehr eingekauft. Ich habe zu wenig dieses Fleisch und dieses Brot gegessen. Ich sehe nur dieser Entwicklung zu – wie sie hingeht zu Tierwohllabel bei Lidl, Bio bei Aldi ... und bei Edeka, Penny, REWE, Famila und wie sie alle heißen, die Großen und Kleineren der Lebensmittelketten, inklusive Denns und Alnatura. Und ich sehe zu, wie diese „Großen“ die Verbraucherwünsche nach gentechnikfrei, nach Weidemilch und Tierwohlschweinen gegenüber den Erzeugern ohne Preisaufschläge durchsetzen und es „einfach machen“. Und zugleich sehe ich großartige Betriebe, Hofgemeinschaften, Hofzusammenschlüsse und Regionalinitiativen, die sich erfolgreich – bezogen auf den Hof und den Absatz – eine eigene Marke geschaffen haben, Fleisch, Brot, Gemüse und Milch selbst vermarkten (auch zum Teil über den Großhandel, natürlich!) und sich so ihre eigene Kundenbindung geschaffen haben. Die Menschen des Hofes stehen hinter dieser Marke und die Verbraucher, die Zugang zu ihrer Vermarktung haben, sind bereit, die Preise zu bezahlen. Ich wünsche mir eine andere Welt und sehe diese vor mir. Ich sehe, wie wir uns dagegen stemmen, wie wir immer wieder ähnliche Debatten führen und sie auch immer wieder neu führen müssen. Wie schaffen wir es, dass möglichst viele (oder gar alle) landwirtschaftlichen Betriebe mit mehr Ökologie, mehr Tierwohl, mehr Umweltschutz ihre Existenz sichern können? Wie, dass möglichst viele (oder alle) Verbraucher sich mit ihrem Geldbeutel für eine bessere und gesündere Ernährung entscheiden können?
05.11.2018
Von: Andrea Fink.Kessler, Büro für Regional- und Agrarentwicklung

Andrea Fink-Kessler