Ich halte die Luft an!

Syrien, 2013: Ich halte die Luft an. Das Raunen in der Luft kündigt den nächsten Schlag an. Ich bin im Bad des alten Hauses, wollte mich gerade waschen und halte einfach nur die Luft an. Ich fühle mich in diesem fensterlosen Bad besonders angreifbar. Mit zu wenig Kleidung an, bereue ich meine Entscheidung, ganz schnell mal mich wenigstens etwas zu waschen.

Was auf das Raunen folgt ist unweigerlich der Einschlag. Hier, nah oder ferner. Während es in der Luft dröhnt, weißt Du noch nicht, wo es treffen wird. Dort, wo es einschlägt, ist auch klar: die Wucht ist unermesslich. Wer es erlebt hat wird es nie wieder vergessen. Es frisst sich in Deine Seele. Es ist wie ein Herzinfarkt, der nie wieder ganz aufhört. Nach dem Einschlag sind der Himmel und die Erde erst mal verschwunden. Es gibt kein Oben mehr, kein Unten. Manchmal gibt es nicht einmal mehr ein Geräusch. Das Geräusch ist dem Körper und der Seele verloren gegangen. Und dann ist nur noch Reaktion: gerettet werden oder andere retten.

Menschen so eingedeckt mit Zementstaub, dass sie aussehen wie lebendig gewordene Statuen. Daraus hervorstechend nur die Augen, die jetzt schon ankündigen, dass das Erlebte nie wieder abzuwaschen geht. Blut, das gleich vom Geröllstaub verschluckt wird. Panische Erkenntnisse: wer ist da. Wer ist nicht da? Sofort beginnende Suche, vielleicht Feuer, vielleicht Gasflaschen, vielleicht freihängende gerissene Stromleitungen, weiter rutschende Gebäudeteile. Die Geräusche kehren zurück. Mit aller Wucht sind alle Geräusche und Erkenntnisse zurück. Die Reaktionen kehren zurück. Wie viele Menschen waren hier? In welchen Räumen? Wo sind die Räume jetzt? Wenn die zur Statue gewordene Mutter schreit, zwei Kinder ein Baby! Im Flur versteckt! Wo ist jetzt der Flur? Wo in diesem Geröll ist der Flur? Es gibt eine Nachbarin mit ihren Kindern. In der Nachbarwohnung? Wo ist die Nachbarwohnung jetzt? Wo in diesem Geröll ist die Nachbarwohnung?

 

Schnitt. Besprechung mit den lokalen Räten. Die Landwirtschaft kollabiert. Die Menschen hungern. Jede Stadt, jede Gemeinde hat eine andere Situation. Die einen brauchen Hilfslieferungen, um einfach nicht zu verhungern, während die Bomben fallen. Die anderen könnten produzieren, doch die Transportwege für Diesel, Saatgut und Verteilung sind zu. Die nächsten werden seit mehreren Jahren belagert und haben nun gelernt in den verstecktesten Winkeln der Stadt heimlich zu produzieren.

Es sind die gleichen Aktivisten, die daran arbeiten und im nächsten Moment wieder daran, wie die Menschen aus den Trümmern in den Untergrundkrankenhäusern versorgt werden können. Ein ständiger Wechsel von Notfallplan und Rettung mit Langzeitstrategien der selbstbestimmten Versorgung.

Die Lösungsansätze, die in unserem bäuerlichen Netzwerk in Syrien entwickelt wurden, waren nie von Ideologie geprägt. Sie entstanden aus der Notwendigkeit zu handeln. Auch in Syrien war die Landwirtschaft industrialisiert und spezialisiert. Jahrzehntelang war auf Cashcrops wie Baumwolle und auf nur noch 6 Weizensorten gesetzt worden. Der vorgelagerte Bereich konnte -ähnlich wie bereits jetzt in der Ukraine (und sogar schon in Deutschland) zu sehen ist, ganz schnell nicht mehr liefern. Diesel, Mineraldünger, Pflanzenschutzmittel, Saatgut waren auch in Syrien die größten Herausforderungen. Ein Blick in den Libanon zeigt, dafür braucht es nicht unbedingt direkt Krieg, dafür reicht schon eine Wirtschaftskrise. Bei aktiven Kriegshandlungen kommt noch viel Unlösbares obendrauf. Dort, wo gekämpft wird, kann sowieso kein Feld bestellt werden. Müssen die Männer in den Militäreinsatz, fehlt es schnell an vielen notwendigen Arbeitskräften.

Die starken Lösungen in Krisen waren pragmatisch: möglichst unabhängig von Importen und möglichst kleinteilig. Möglichst geschlossene agrarökologische Kreislaufsysteme mit größtmöglicher Dezentralisierung. Die Rolle der Frauen stärken. Die vielen Höfe und die vielen Lebensmittelweiterverarbeiter*innen, die vielen Hände in denen Samenfeste Sorten Saatguts liegen, die vielen tierhaltenden Betriebe, die organischen Dünger produzieren, die vielen Leguminosen und Eiweißfrüchte in den Regionen, die kurzen Transportwege, die vielen Menschen mit guten handwerklichen Kenntnissen. All dies sind Grundsteine für Resilienz gegenüber Krisen und für die politische Selbstbestimmung.

Nicht umsonst setzt auch der „Rapid Response Plan“ der FAO in Bezug auf die Ukraine sofort auf genau diese Kleinteiligkeit: um zumindest die Aufrechterhaltung der Nahrungsversorgung im Land einigermaßen aufrechtzuerhalten, werden genau die Strukturen unterstützt, die noch am ehesten einen Ertrag liefern können: Kleinbäuer*innen und Binnenflüchtlinge sollen mit schnellen Programmen gestützt werden, die Selbstversorgung mit pflanzlichen und tierischen Produkten in möglichst geschlossenen Kreisläufen ist dabei das Ziel. Nicht konzentrierte Strukturen, sondern alles so dezentral wie möglich zu gestalten ist dann -wenn die Krise da ist stets die erfolgreichste Herangehensweise.

Immer wieder wiederholt es sich jedoch vor unseren Augen, dass diese Programme dann hochgefahren werden, wenn schon alles brennt. Wie ständige Feuerlöscher sozusagen, die sich durch die Historie von Kriegen, Krisen und Konflikten ziehen. Die großangelegten „Feuerlöscher-Programme“ sind aber auch wahnsinnig teuer und aufwendig. Es muss in der Krise das geschaffen werden, was in der Friedenszeit nicht geschaffen wurde, oder genauer gesagt: für kurzfristige Profitinteressen zerstört wurde.

Und so jagt eine Krise die nächste, der Klimawandel, die Vertreibung von Millionen, die Pandemie -Krisenbestandteile und -befeuererer sind aber auch der Verlust unserer Landwirtschaftsbetriebe, die Zerstörung von lokalen Märkten, die Flächenkonzentration, die Konzentrationen in der Weiterverarbeitung, im Handel, in der Transportlogistik, schlechte Preise für Arbeitskräfte, hochspekulierte Preise für Lebensmittel an den Börsen und gleichzeitig die für bäuerliche Betriebe existenzzerstörenden niedrigen Erzeugerpreise.

Wenn ich eines im Kontext von Krieg und Krisen gelernt habe, was nie stattfinden sollte, ist das Ausspielen von Not, Angst, oder gar Hetze gegen die nachhaltigen Langzeitstrategien für die Gesellschaft.

Ganz im Gegenteil: charakteristisch für die landwirtschaftliche und agrarpolitische Arbeit muss solidarisches und zielorientiertes Handeln sein. In unserem Netzwerk in und um Syrien wurden der Eskalation der Gegenwart Konzepte der Zukunft entgegengesetzt. Und Analysen der Vergangenheit. Dabei wurde auch die Industrialisierung der syrischen Landwirtschaft von den Bauern und landwirtschaftlichen Akteur*innen im Netzwerk genau unter die Lupe genommen. Welche modernen Entwicklungen bringen uns voran, welche nicht. Welche Marktzwänge und welche Mechanismen haben uns geschadet?

Was jahrtausendelang die Kornkammer der Region war, ist innerhalb weniger Jahrzehnte gerade in den Cashcrop-intensiven Regionen ausgedorrt und verarmt worden. „Wir waren der Brotkorb der Nation“ sagte mir ein Bauer aus dem Süden, der Provinz Dara’a. Das gleiche hörte ich von einem Landwirt aus der Region Idlib im Nord-Westen, das gleiche aus der Provinz Deir Azzor im Nordosten des Landes. Ich lernte, dass es sich nicht widerspricht, sondern eigentlich stärkt, dass es die vielen Brotkörbe der Nation gibt. Der Stolz der landwirtschaftlichen Produktion in der eigenen Region, der Schmerz über die Zerstörung dessen, gibt Verständnis dafür, dass ein Brotkorb nach dem nächsten verloren geht. Der Krieg gegen die Bevölkerung, der einher ging mit der systematischen Zerstörung aller Infrastruktur, der massiven Vertreibung, dem Einsatz von Hunger als Waffe gegen die Menschen, gab der ohnehin schon leidenden syrischen Landwirtschaft den Todesstoß.

Und die Welt schwieg, jedenfalls unsere Welt im globalen Norden schwieg, solange es nicht der Brotkorb ist, von dem sie sich nährt, sondern nur „die da unten“. Die Menschen, die man auf irgendwelchen Karten mit von Kolonialherren gezogenen Linealstrichen assoziiert. Natürlich kann der Brotkorb Syrien sich selbst nun auch nicht mehr ausreichend ernähren. Er wurde unter anderem von Russland in Grund und Boden gebombt und ist so jetzt von Importen abhängig, die nun vermutlich ausfallen oder zu teuer werden. Nebenan der irakische Brotkorb hat sich vom US geführten Krieg und der darauffolgenden Vereinnahmung der regionalen Landwirtschaftsstrukturen nicht erholt. Nur zwei Beispiele von vielen Brotkörben in der Region. Viele der Länder, denen nun Hunger durch den Ukrainekrieg droht können diese Liste weiter ergänzen. Wären die Kornkammern und Brotkörbe dieser Regionen der Welt schon längst geschützt und gestärkt worden, wäre das Ausmaß ihrer Abhängigkeit von russischer und ukrainischer Produktion jetzt nicht so groß. Die Konflikte und auch die politische Erpressbarkeit, die daraus resultiert gestalten unserer aller Zukunft noch ungewisser. Ernährungssouveränität und politische Souveränität hängen direkt zusammen.

Hat unser Netzwerk in Syrien die über 10 Jahre Bombardierungen überlebt? Kaum. Es ist in den Bombardierungen entstanden und hat resiliente Methoden entwickelt, während es sich mitten im Krieg im ganzen Land etablierte. Doch nichts überlebt die Bomben, wenn sie zu lange fallen. Und trotzdem sind es nun syrische Bauern, als Geflüchtete, die im Libanon und im Irak die Methoden lehren, um dort die Landwirtschaft wieder zum Leben zu erwecken. Ihr Wissen um die landwirtschaftliche Resilienz konnten die Bomben nicht vernichten.

Die Ukraine als „unsere“ Kornkammer ist nun bedroht. All das mach Europa betroffen. Eine Betroffenheit ist aber nur dann ehrlich, wenn sie sich den richtigen zuwendet. Zuallererst sind die Ukrainer*innen selbst bedroht. Ihr Leben, ihre Gesundheit, ihr Schicksal und ihr Land müssen die oberste Priorität haben.

Wer die Auswirkungen auf die Länder des globalen Südens hervorhebt, muss auch benennen, dass sie einerseits der Gewalt unserer Märkte ausgeliefert wurden oder aber in unzähligen von uns nicht beachteten Kriegen zerstört wurden. Wer die Sorge um sie benennt, muss auch ehrlich sein, dass es sich gegen die Spekulation mit Lebensmitteln einzusetzen gilt und nicht für die Erschließung eigener Marktinteressen. Neben diesen Faktoren ist und bleibt der Klimawandel eine Krise, die diesen Hunger stärkt und die nicht im Tausch gegen andere Krisen immer wieder auf die Wartebank gesetzt werden darf. All dies sind gleichzeitig Gründe, die langfristig auch das Ende für all unsere Betriebe bedeuten.

Jeder, der die jetzige Situation in der Ukraine instrumentalisiert, um das gefräßige System der Industrialisierung und des Weltmarkts zu befürworten, kann sich nicht hinter geheuchelter Betroffenheit verstecken. Anstatt auf die Abhängigkeit von der Ukraine hinzuweisen und dadurch für eine weitere Intensivierung der Landwirtschaft in Deutschland zu plädieren, muss hier solidarisch für die Ernährungssouveränität und eigene Produktionsfähigkeit überall auf der Welt eingetreten werden. Es wird hier ein ständiges Weiter gepredigt, für ein hoch vulnerables System, welches uns von einem Kollaps in den nächsten treibt.

Es ist nicht nachzuvollziehen, warum diese Weitsicht nicht auch in Bezug auf die Betriebe in Deutschland, die an genau den gleichen Mechanismen einer nach dem anderen kaputt gehen an den Tag gelegt wird. Eine ehrliche Politik uns selbst gegenüber sollte nicht sein, für kurzfristige Interessen den Rollback und die weitere Abhängigkeit von Bauern und Bäuerinnen hier ohne Nachhaltigkeit und geschlossene Wirtschaftskreisläufe, ohne regionale Wertschöpfung und ordentliche Erzeugerpreise und ohne die notwendigen Antworten auf Klimawandel und Biodiversitätsverlust zu propagieren. Bauernvertreter, die das tun, leisten den Landwirt*innen hier einen Bärendienst. Man kann sich an den 4% Stilllegung als Ablenkungsdebatte abarbeiten. Man kann sich aber auch darauf konzentrieren FÜR etwas einzutreten: für die Produktion von Eiweißfrüchten und resiliente Tierproduktion, für die sofortige Steigerung der Gemüseproduktion, für ein Gesetz gegen die Lebensmittelverschwendung, für mehr handwerkliche Lebensmittelverarbeitung in den Regionen und daraus resultierend für geringere Transportwege, für solidarische Märkte regional und international, für die Erarbeitung von regionalen Wertschöpfungsketten -auch auf internationaler Ebene mit dementsprechender solidarischer Stärkung von Souveränität in den Ländern des globalen Südens.

Alle von uns, die in den letzten Kriegen massive Traumata und Schmerzen erfahren haben, sind innerlich in den jetzt ersten drei Wochen Krieg in der Ukraine zusammengebrochen. Keiner von uns hat an Tag zwei die Kraft gehabt, oder wäre auf die Idee gekommen etwas zu proklamieren was jetzt sofort in der Agrarpolitik in Deutschland alles zurückgedreht oder vorgedreht werden soll. Aber verwechselt unsere traurige Stille von ein paar Tagen der Bedacht, des Schmerzes und dem Mitgefühl mit den Ukrainer*innen nicht mit agrarpolitischer Stille. Wir haben das agrarpolitische Geschrei aus einigen Vertretern des Berufsstandes schon gehört. Wir haben ebenso wie wir die Bomben kennen, auch politische Instrumentalisierung zu erkennen gelernt. Unser Schmerz ist nicht mit Schwäche zu verwechseln. Und unser Bedacht nicht zu verwechseln mit agrarpolitischem Schweigen, sondern bedeutet Wissen, welcher Einsatz von Arbeit nun erst recht FÜR die regionalen Lösungen, FÜR die Nachhaltigkeit und FÜR die Agrarökologie vor uns liegen. Auch wenn wir erst mal etwas still waren, haben wir jedoch nie unsere Arbeit unterbrochen. Wir sind es leider schon lange gewohnt zwischen Notfallplan und Langzeitperspektiven zu agieren: wir wissen, dass unserer aller Landwirtschaft und Lebensmittelversorgung sich zusammensetzt aus den vielen Menschen die sie machen. Aus ihren Menschenrechten, wirtschaftlichen Rechten, ihrer körperlichen und psychischen Unversehrtheit, aus ihrer Selbstbestimmung, ihrer Stärkung, ihrer Bildung -der Erde, dem Saatgut, der Technik, der Tiere, der Pflanzen, der Artenvielfalt und dem Klima was für und mit ihnen erhalten und verteidigt werden muss.

30.03.2022
Von: Julia Bar-Tal, AbL-Bäuerin

Julia Bar-Tal / Syrien

Trümmer wo einst Stadt war