Gelingt ein Systemwechsel im zweiten Anlauf?

Es ist ein heißes Eisen, dessen ist man sich in der EU-Kommission bewusst. Als sie vor knapp zehn Jahren versuchte, die Saatgutgesetzgebung zu überarbeiten, scheiterte ihr Vorschlag am parteiübergreifenden Widerstand der EU-Parlamentarier, bäuerlicher Interessenvertreter, Saatguterhaltungsinitiativen und ökologischer und alternativer Züchtungsunternehmen. Diese hatten entsprechend vorher ihre Ablehnung deutlich gemacht. Wäre der damalige Vorschlag der Kommission unverändert als Gesetz angenommen worden, so hätten sich einmal mehr die Interessen der internationalen Pflanzenzüchtungskonzerne durchgesetzt. Maßgeblich für sie scheint das jetzt geltende Recht gemacht, und so ist es durchaus auch im Interesse vieler anderer Akteure, dass sich etwas ändert. Die Frage ist, ob angesichts der äußerst gegensätzlichen Interessen ein Kompromiss gelingen kann, der nach der Zurückweisung durch das Parlament 2013 die inzwischen auch veränderten Ansprüche der Akteure und der Gesellschaft und die ökologischen und klimatischen Veränderungen berücksichtigt. Hier einmal auszuloten, was gehen könnte, hat offenbar EU-Parlamentarier aller Parteien, aber auch Wissenschaftler sowie Interessenvertreter von Bio- und Erhaltungsinitiativen dazu bewogen, im Juni zu einer Konferenz im Europaparlament (EP) in Brüssel einzuladen.

UN-Unterstützung

Moderator Hannes Lorenzen, seit langem engagiert für ein zukunftsfähiges EU-Saatgutgesetz, umriss die Rahmenbedingungen. Schon während der schwierigen Verhandlungen zur EU-Öko-Verordnung, die er selbst für das EP auf Mitarbeiterebene leitete, sei so etwas wie eine Blaupause für eine neue Saatgutgesetzgebung entstanden. Der erfolgreiche Kompromiss am Ende der Verhandlungen könne der Kommission als Ansporn für einen mutigen und realistischen Gesetzentwurf dienen und damit die notwendige Erhaltung und Weiterentwicklung der Vielfalt in der Pflanzenproduktion endlich voranbringen. Gleichzeitig seien mit der Einführung des heterogenen Materials wie auch der Populationen neue Begrifflichkeiten und Kategorien in die Brüsseler Gesetzgebung eingezogen, die LandwirtInnen, ErhalterInnen und ZüchterInnen eine wichtige Rolle in der Neuorientierung der Landwirtschaft einräumen könnten.

Unterstützung für die Forderungen von Bauern und Bäuerinnen kam bei der Konferenz von den Vereinten Nationen. Wie Christophe Golay, Wissenschaftler von der Geneva Academy of International Humanitarian Law and Human Rights ausführte, ist die verabschiedete UN-Resolution zum Recht auf Saatgut bindend und verpflichtet sowohl Unterzeichner- als auch Nichtunterzeichnerländer dazu, Maßnahmen zur Förderung bäuerlicher Rechte zu ergreifen. Sie schreibt den Schutz des traditionellen Wissens der Bauern und Bäuerinnen fest, aber auch den Tausch und die Vermehrung von Saatgut. Guy Kastler von Via Campesina unterstrich den bäuerlichen Anspruch angesichts der Veränderungen durch den Klimawandel. Nur mit Vielfalt und Widerstandsfähigkeit regionalen bäuerlichen Saatguts gelinge es, den Herausforderungen auch der angestrebten Minimierungen von Mineraldünger und Pflanzenschutzmitteleinsatz in der EU gerecht zu werden. Er forderte den Ausstieg aus dem bisherigen System, das auf einer geringen genetischen Vielfalt, von wenigen Konzernen vordringlich auf Hochertrag mit maximalem Input gezüchtet, beruhe. Zugunsten dieses Systems, so Magdalena Prieler von der österreichischen Erhaltungsinitiative Arche Noah, habe die Politik bei der Erstellung der Gesetzesgrundlage in den 60er Jahren die Vielfalt – Amateursorten, bäuerliche Züchtung, Erhaltung genetischer Ressourcen jenseits der Genbank – künstlich klein gehalten. Sie forderte nun gleiche Rechte für die Diversität, keine Beschränkungen mehr für Erhaltungssorten auf Region oder Menge. Es müsse möglich sein, auch mit Vielfaltssorten Geld zu verdienen oder aber einfach nur Saatgut zu tauschen. Kleinere, oft ökologisch züchtende Unternehmen müssten Möglichkeiten bekommen, kostengünstig Sorten registrieren zu lassen, ohne die teuren Zulassungsprozesse und die vor allem auf hohen Ertrag fokussierenden DUS-Kriterien (Unterscheidbarkeit, Uniformität und Stabilität) in jedem Fall erfüllen zu müssen.

Nische oder Mainstream?

Anschaulich machte Riccardo Bocci von der italienischen Organisation Rete Semi Rurali deutlich, worum es ihm geht: In Italien nutze vor allem die Po-Ebene die Sorten der großen Züchtungsunternehmen. Viele Erzeuger an den weniger produktiven Standorten Italiens leisteten aber wertvolle Beiträge zum Erhalt von Ernährungssouveränität und Vielfalt und hätten hinsichtlich des Saatgutes ganz andere Ansprüche. Die Nischensortenregelung in der Schweiz kam an diesem Punkt ins Gespräch, die François Meienberg von Pro Specie Rara vorstellte Er beschrieb die drei gleichberechtigten Säulen dieses Systems: die klassische Sortenentwicklung als die eine, eine zweite, die eine Notifizierung für Züchtungen ohne DUS-Kriterien und mit niedrigen Gebühren vorsieht und eine dritte Säule für Erhaltungsinitiativen, die sich komplett außerhalb des Systems bewegen können. Wichtig sei die Transparenz; es gebe keine Beschränkungen, aber jeder wisse, was er kaufe.

Kompromisslinien

Nun waren die Parlamentarier an der Reihe und Norbert Lins von der konservativen EVP betonte als erster, dass er die Notwendigkeit von Veränderungen sehe. Er könne sich Ausnahmen vorstellen für Kleinlandwirte, vereinfachte Registrierung und die Streichung der regionalen oder mengenmäßigen Begrenzungen von Erhaltungssorten. Der Liberale Dacian Ciolos verwies einmal mehr auf den großen Biodiversitätsverlust und die Uniformität, die mit dem bisherigen System erzeugt worden sei. Es dürften nicht länger Akteure, die sich um Vielfalt und Erhalt bemühen, in die Illegalität gedrängt werden. Martin Häusling, Grüner und damaliger Berichterstatter zur EU-Ökoverordnung, betonte, dass aufgrund der großen Herausforderungen Bäuerinnen und Bauern echte Alternativen zur alten Lehre bräuchten, die Saatgut, Mineraldünger und Spritzen als untrennbar miteinander verbunden sehe. Wenn auch in vielen Details anderer Ansicht, so konnten doch auch Eric Andrieu von den Sozialisten wie auch Anja Hazekamp von den Linken bei dieser Analyse mitgehen. Kompromisse auf Ebene der Parlamentarier werden möglich sein. Die Frage ist eher, wie sehr sich die Kommission darauf einlässt, das alte System wirklich durch ein neues zu ersetzen und damit die Saatgutindustrie herauszufordern und zum Umdenken zu bewegen. Wie groß der Druck auf den erwarteten Gesetzentwurf im Vorfeld ist, zeigt die Tatsache, dass mit Päivi Mannerkorpi und Laurence Bonafos zwei ranghohe EU-Kommissionsvertreterinnen dabei waren. Sie betonten ihre Offenheit, die durch die EU-Bioverordnung geschaffenen Grundlagen, aber auch den aus ihrer Sicht noch gegebenen Forschungsbedarf.

Aber ...

Cesar Gonzales von der Züchtervereinigung und dem Branchenverband der europäischen Saatgutzüchter Euro Seed machte am Ende den Gegenentwurf. Es stimme schlicht nicht, dass die alten Sorten besser seien als die neuen, sonst wären die Züchtungsunternehmen längst arbeitslos. Natürlich seien auch neue Sorten an künftige Umweltherausforderungen angepasst. Und Saatguttausch sei Vermarktung und das müsse auch so adressiert und reguliert werden. Ebenso halte er nicht viel davon, regionale oder Mengenbeschränkungen aufzuheben. Aus seiner Sicht gebe es kaum Reformbedarf bei der derzeitigen Gesetzgebung.

„So ist Demokratie“, kommentierte Moderator Lorenzen am Ende. Nun müsse um die notwendigen Veränderungen und Kompromisse gerungen werden. Und Magdalene Prieler von Arche Noah betonte einmal mehr, dass eine Reform der Gesellschaft, den Menschen, die auf dem Land arbeiten, und der Umwelt gerecht werden müsse und nicht nur den finanziellen Interessen der Konzerne folgen dürfe.

15.09.2022
Von: cs