Agrarpolitik bewegt Berlin

Der Platz vor dem Brandenburger Tor, auf dem die große Bühne für die Auftaktkundgebung zur Wir-haben-es-satt-Demo 2023 steht, ist noch leer. Es ist Samstagmorgen in einem kalten, aber trockenen Berlin. Wenige Stunden später werden hier 10.000 Menschen eine andere Agrarpolitik fordern, werden die Demonstranten für die 55 Trecker, gefahren von Bäuerinnen und Bauern, ein Spalier formen. Noch aber sind die Traktoren zu einem anderen Ort in Berlin unterwegs: dem Außenministerium. Fast eine ganze Woche lang tagt hier auf Einladung des Bundeslandwirtschaftsministers Cem Özdemir die GFFA, die internationale Agrarministerkonferenz. Unzählige PressevertreterInnen erwarten den Treckerkorso bereits. Für 10.30 Uhr ist das Treffen mit dem Minister laut Zeitplanung des BMELV eingeplant. Die Traktoren sind da, Bäuerinnen und Bauern auch. Wer fehlt, ist der Minister. Es ist kalt und windig in Berlins Straßen. Vor dem Ministerium werden Sprechchöre laut: „Lass uns nicht im Kalten stehn! Komm raus!“ Doch das Agrarministertreffen ist kein Uhrwerk und Verschiebungen sind offenbar nicht planbar. Vielleicht auch, weil der Ablauf im Inneren in diesem Jahr anders ist als unter der CDU-Frau Julia Klöckner. Der Gipfel hat eine Neuausrichtung erfahren. Viele Bäuerinnen und Bauern aus verschiedenen Ländern sind unter den TeilnehmerInnen. Auch der UN-Sonderberichterstatter zum Recht auf Nahrung, Michael Fakhiri, ist zu Gast. Nicht Handel und Digitalisierung, sondern die globale Ernährungssituation stehen in diesem Jahr im Vordergrund.

Nicht genug

Seit einem guten Jahr ist die neue Bundesregierung, ist Özdemir im Amt. Angriff und andauernder Krieg in der Ukraine bestimmen viele Regierungsgeschäfte. Die auch durch den Krieg ausgelöste Energie- und Nahrungsmittelkrise zeigt aber – da sind sich die DemonstrantInnen vor dem Ministerium sicher – wie wenig resilient aktuell unser deutsches, aber auch das weltweite Ernährungssystem ist. Das spiegelt sich in den sieben Forderungen wieder: Es geht um den Erhalt der Höfe. Jeden Tag machen hierzulande zehn Bauernhöfe dicht, während die verbleibenden immer größer werden. Die Inflation als Folge des Kriegs hat alles teurer werden lassen, auch Lebensmittel. Trotzdem kommt bei den Bäuerinnen und Bauern nur wenig davon an. „Konzerne und Superreiche nutzen die Krisen, um ihr Vermögen zu erhöhen. Gleichzeitig haben Bürgergeld-Empfänger*innen weniger als 6 Euro am Tag für Essen und Trinken.“ Heiße, trockene Sommer und Hochwasserfluten verdeutlichen die Klimakrise. Durch eine Klimaschutz mitdenkende Agrarwende kann auch die Landwirtschaft ihren Teil beitragen. „Mit gesunden Böden, renaturierten Mooren und resilienten Wäldern lässt sich Kohlenstoff in großen Mengen binden." Biodiversität erhalten, Insekten schützen und Pestizide verbieten ist der vierte Punkt im Forderungskatalog. Und während der Lebensmittelhandel in ganz Deutschland mit dem Veganuary versucht, den Umsatz anzufeuern, wird Özdemir in seiner Ankündigung, die Tierzahlen zu halbieren, bestärkt. Mit dem Blick auf die in Folge des Krieges angespannte Ernährungssituation, die in nicht wenigen Ländern zu massiven Hungerproblemen geführt hat, wird der Minister aufgefordert, den Hunger zu bekämpfen und resiliente Strukturen vor Ort aufzubauen: „Hunger beenden heißt: Zugang zu Land, Wasser und Saatgut weltweit sichern.“ Den Hunger in der Welt zu stoppen ist seit vielen Jahrzehnten das Heilsversprechen der Gentechnikindustrie. Außer großen Ankündigungen haben die teuren, patentierten Sorten in dieser Beziehung so gar nichts geleistet. Wegen der möglichen Auskreuzungen und der drohenden Abhängigkeit durch patentiertes Saatgut wird gefordert: „Agro-Gentechnik stoppen – Risikoprüfung und Kennzeichnung erhalten!“

Wertschätzung

Der Minister, der mit seinen drei Staatssekretärinnen gekommen ist, hört sich die Reden geduldig an und betont in seiner Rede, dass er die Komplexität der Situation verstanden hat: „Wer Ernährungssicherung, Klimaschutz und Biodiversität gegeneinander ausspielt, hat am Ende alles drei verloren.“ Zum Schluss bekommt er eine große Schale mit Saatgut – roten und grünen Linsen, weißen und schwarzen Bohnen, Roggen, Weizen und Hirse – übergeben, die er nach vielen Fotos mit den Überreichenden bedächtig ins Ministerium trägt. So gut scheint ihm dieses Geschenk gefallen zu haben, dass er es auf dem Gruppenfoto der internationalen Agrarministerkonferenz nochmals präsentiert.

Derweil am Brandenburger Tor

Der Platz ist voll. Die Agrarwende ist für viele Menschen ein Thema. Der Jugendblock wird die Demo anführen. Auf der Bühne berichten Lea Annabel Schneider, Tobias Schoef und Anastasia Kühn von ihrer Sicht. Sie thematisieren die Notwendigkeit eines Zugangs zu Land, den unbedingten Willen vieler junger Menschen, trotz schlechter Start- und oftmals auch Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft arbeiten zu wollen, Lebensmittel zu produzieren und sich für eine nachhaltige, klimafreundliche Gesellschaft einzusetzen.

Julia Bar-Tal ist eine der Moderatorinnen. Für sie ist klar, dass es bei sozialen und ökologischen Fragen kein Entweder-oder geben kann. Sie fordert eine Umverteilung des Reichtums sowie einen konsequenten Klimaschutz als Grundlage für ein sozial gerechtes und solidarisches Zusammenleben. Wie wichtig es ist, alle Menschen, alle sozialen Gruppen der Gesellschaft wahrzunehmen, das betont auch Helga Wöller. Die Rentnerin mit Armutserfahrung war erwerbslos und ist Mitglied der nationalen Armutskonferenz. „Armut ist ein reales Problem! Armut ist kein banales Problem! Armut bleibt ein Skandal!“ Sie fordert, dass der Zugang zu gutem und nachhaltig fair erzeugtem Essen auch für Menschen mit Armutserfahrung finanzierbar sein muss. „Sozialleistungen müssen einen ökologischen Konsum ermöglichen!“

Auf die Trecker, fertig, los!

Noch vor dem Frontbanner, das vom Jugendblock getragen wird, fahren die Trecker und führen die erste WHES-Demo nach zwei Jahren Corona-Pause an. Die vielen Menschen mit eigenen Schildern und sehr klaren Botschaften für mehr Tierschutz, Klimaschutz, bäuerliche Landwirtschaft, regionale Strukturen und ein Ende von agrarindustrieller Produktion zeigen, dass ihnen die von Minister Özdemir angeführten ersten Schritte seines Hauses noch lange nicht genug sind. Ein Jahr sei er erst im Amt, das müsse man bedenken, betont er gerne. Bei den Demonstranten aber spürt man die Ungeduld, hohe Erwartungen und keine Schonung für den eloquenten Grünen aus Schwaben.