Wer hätte das gedacht: Bäuerinnen und Bauern können in einem Industrieland Wahlen beeinflussen – ja sogar entscheiden. So gerade in den Niederlanden geschehen. Bei den Provinzwahlen in der letzten Woche errang die erst kürzlich gegründete “BauernBürgerBewegung“ (BoerBurgerBeweging; BBB) aus dem Stand über 30% der Stimmen. In den meisten Provinzen und wahrscheinlich auch demnächst im von den Provinzräten gewählten Senat (ähnlich bei uns dem Bundesrat), wurde sie zur stärksten politischen Kraft. Die Provinzen, eine eigentlich kaum beachtete Zwischenebene der Politik, die eigentlich nur die Beschlüsse der Regierung durchwinkt, sind zum Schauplatz einer Abrechnung mit der unpopulären Mitte-rechts Vier-Parteien-Koalition des Regierungschefs Rutte geworden. Bei der Konstituierung des Senats im Mai wird sich zeigen, welche Brisanz in diesem Ergebnis steckt oder ob auch dieses Mal die Kritik an „Teflon-Rutte“, wie er genannt wird, abtropft. Er hat bereits angekündigt, dass sich für ihn grundsätzlich nichts geändert habe. Schließlich waren es ja keine nationalen Wahlen.
Ländliche Protestpartei mit Erdrutschsieg
Die BBB, 2019 nach den großen Bauernprotesten von der Agrarjournalistin Caroline an der Plas gegründet, die bisher auch deren einzige Abgeordnete im Parlament ist, errang mit 16 von 75 Mandaten mehr als jede andere Partei. Die vier Parteien der Koalition erzielten zusammen 25 Sitze und verloren ein Viertel der Stimmen. Rot-grün gewann zusammen 15 Sitze.
Der Beginn einer Rutte-Dämmerung, der seit 2010 Ministerpräsident diverser Koalitionen ist, heißt es in den Medien unseres Nachbarlands. Die BBB, einst Stimme des Agrarsektors gegen als Zumutung empfundene Umweltstandards, kanalisiert heute den Unmut unterschiedlicher Gruppen. Sie profitiert von einem Protestpotenzial, das seit über 20 Jahren die niederländische Politik prägt und das immer wieder die Vertrauenslücke zwischen Regierung und Wahlvolk öffentlich macht. Bisher haben das oft rechte oder ultrarechte Parteien für sich genutzt. Auch wenn die BBB zweifellos populistisch und in einem konservativ-ländlichen Milieu verwurzelt ist, unterscheidet sie sich davon. Während man beim rechten „Forum voor Democratie“ vom Belagern des Parlaments a la USA oder Brasilien träumt oder Rechtsaußen Geert Wilders vernachlässigte Landwirte gegen vermeintlich verhätschelte Geflüchtete aufrechnet, fordert „Parteiführerin“ Caroline van der Plas, die parlamentarische Demokratie zu stärken. Sie will einen moderaten Kurs fahren, was sich bei den Wählern auszuzahlen scheint. Zweifellos ist die BBB eine Protestpartei mit eher konservativem Anhang, der zuvor oft die Christdemokraten oder die rechtsliberale VVD wählte. „Wenn wir abstimmen, liegen wir ein bisschen rechts von der Mitte. Im sozialen Bereich eher links“, so van der Plas unlängst in einem Interview.
Falsche Flaggen: oben Blau, unten Rot
Die Protestpartei auf Linie zu halten und im politischen Alltag zusammenzuführen, dürfte ein schwieriges Geschäft werden. Bei einer Großdemonstration in Den Haag mit 25.000 Teilnehmer kurz vor der Wahl wurde einmal mehr deutlich, welch verschiedene Protestgruppen gegen die Rutte-Regierung agieren. Organisiert von der radikalen Bauernorganisation Farmers Defense Force (FDF) und unterstützt von rechten Gruppierungen, versammelten sich unter den vom letzten Sommer bekannten umgedrehten Landesfahnen Bauern, Querdenker, Klimawandelleugner bis zu Anhängern verschiedener Rechtsparteien. Natürlich war die Stickstoffkrise ein zentrales Thema. Aber das Motto der Veranstaltung war „Wählt sie ab“. Wie die Landwirtschaftszeitung „Boerderij“ berichtete, hatte van der Plas auf eine Rede verzichtet, weil sie sich auf dem Podium nicht sicher fühle. Auffällig war aber der soziale Bezug in den meisten Redebeiträgen. Die unsoziale Politik von arm und reich, die Arroganz der Macht wie die zahlreichen „Skandale“ der „Da oben“ sind Fixpunkte dieser Bewegung. Wie oft bei populistischen Bewegungen ist ein teils aggressiv vorgebrachtes Antistaat- und Antieliten-Verständnis die Folge. Auch Vorbehalte gegen Ausländer und Flüchtlinge wurden sichtbar.
Nach ihrem Sieg könne man auch die niederländische Fahne wieder richtig tragen, heißt es bei der BBB. Bisher war es ein Symbol der Bewegung, die drei Farben der Flagge auf den Kopf zu stellen.
„Stimme von und für die Provinz“
Die BBB sei bereit, Kompromisse einzugehen, aber nur wenn andere es auch machen, so die Vorsitzende. Der Ausgangspunkt der Bewegung war die Diskussion um die Stickstoffkrise, aber inzwischen geht es um viel mehr. Wenn nur die Landwirte sie gewählt hätten, wären sie eine Splitterpartei. Bei der Parlamentswahl 2021 hatte man 1% der Stimmen gewonnen. Als sich im vergangenen Sommer weite Teile der Bevölkerung mit den protestierenden Bäuerinnen und Bauern solidarisierten, begann ihr Aufstieg. „Bauern sind harte Arbeiter, die fest anpacken. Das gilt für viele Niederländer auch“, erläuterte van der Plas im Wahlkampf. Sie gilt als authentisch, bodenständig und ehrlich. Die Politik habe den normalen Menschen vergessen. „Die Bauern repräsentieren diesen Unmut,“ sagt sie. „Unser Ziel ist es, die Stickstoffpolitik anzupassen. Am wichtigsten ist, dass die Landwirte eine Zukunft haben. Die Menschen auf dem Land wollen, dass die Bauern bleiben; das wird in Den Haag nicht gesehen“.
Die Stickstoffkrise und der landwirtschaftliche Protest dominiert (noch) den Kern der Auseinandersetzung. Die Unterstützung und Sympathie für das niederländische Agrarmodell ist in der Bevölkerung weit verbreitet, aber die Wähler gehen weit über Ackerbau und Viehzucht hinaus. Die BBB bezeichnet sich selbst als eine Stimme von und für die Provinz, besonders im ländlich geprägten Osten und Nordosten, wo sich die Bevölkerung seit Jahren von Den Haag beziehungsweise dem „Westen“ mit seinen urbanen Ballungsgebieten benachteiligt fühlt.
Wut und Frust bei den Landwirten über die Stickstoffpolitik
Für viele der 50.000 Landwirtschaftsbetriebe bedeuten die von der Regierung angekündigten Auflagen zur Reduktion des Stickstoffausstoßes erhebliche Einschnitte. Besonders in der Nähe von Naturschutzgebieten sind die Betriebe drastisch bedroht. Bis 2030 sollen die agrarischen Schadstoffemissionen halbiert werden, je nach Region auch bis zu 95%. Die Natura 2000- und anderen Gebiete sind wie ein Verbundsystem über das gesamte Land verteilt. Im Süden und Südosten trifft es besonders die Schweine-Intensivregionen, im Norden und Nordosten die Milchwirtschaft.
Auslöser für diese Entscheidung war ein Urteil des höchsten Gerichts im Jahr 2019 zur Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben. Schließlich sei die Landwirtschaft für 46 % der Stickstoffemissionen verantwortlich. Die Maßnahmen könnten das Ende für etwa 20 % der Höfe bedeuten, schätzen Agrarvertreter. Vorrangig sind die Eigentümer von rund 3000 Höfen, die in der Nähe von bedrohten Naturgebieten liegen, betroffen. Sie sollen zum Verkauf bewegt werden oder zumindest zur drastischen Reduzierung des Viehbestandes. Aber auch Enteignungen werden nicht ausgeschlossen, was die Empörung besonders schürt. Zur Entschädigung ist ein 24 Mrd. € Entlastungspaket vorgesehen. Ein Vermittlungsausschuss zwischen der Regierung und der Agrarbranche hat empfohlen, etwa 500 Betriebe mit den höchsten Emissionen innerhalb eines Jahres herauszukaufen. Die Umsetzung der Maßnahmen soll in den Regionen beschlossen werden. Dort aber werden jetzt neue politische Mehrheiten entstehen.
Zu spät...
Jahrelang wurden die Umweltbelastungen in den Niederlanden geduldet oder mit Ausnahmeregeln legalisiert, obwohl Grenzwerte überschritten wurden. Immer wieder wurden Schlupflöcher gefunden, um nur nicht die Produktion einzuschränken. Dass dies ein Fehler war, räumt inzwischen auch die Regierung ein. Zu spät, zu zaghaft und jetzt zu schlecht vermittelt, bewertet der Historiker Geert Mak das Vorgehen des Staates. Wenn man einen Aufruhr im Lande befördern wolle, so Mak bereits vor einem Jahr, müsse man wie die Regierung eine ohnehin verunsicherte Berufsgruppe durch schlechte Kommunikation noch stärker frustrieren.
Das Urteil von 2019 bleibt nicht ohne Folgen: Alle Projekte, bei denen Stickstoff freigesetzt wird, dürfen nicht genehmigt werden. Das heißt, der Bau von zigtausenden Wohnungen und Straßen stockt, die Industrie kann nicht expandieren, und auch die Energiewende kommt nicht voran.
... aber notwendig: der Umbau
"Der große Umbau der Landwirtschaft ist unvermeidlich", sagte Christianne van der Wal, „Ministerin für Natur und Stickstoffpolitik“. Grund dafür sei nicht nur der Naturschutz, sondern auch der Klimawandel. Die Bauern aber fordern eine Zukunftsperspektive und sie fühlen sich von der Politik im Stich gelassen. Sie sagen, dass sie im Prinzip die Ziele der Umweltsanierung teilen, möchten aber nur leichte technische Veränderungen wie stickstoffärmere Fütterung, mehr Beweidung oder eine freiwillige Herauskaufaktion usw. Zudem seien auch die anderen Wirtschaftsbereiche „dran“. Aber eigentlich fordern sie ein „Weiter so“ und ein Recht auf ihre Produktion für die wachsende Weltbevölkerung, schließlich hätten sie nur gemacht, was Politik, Industrie und Banken jahrzehntelang verlangt haben, so die FDF.
Kritiker wie der Agrarökonom van der Ploog sehen keine schnelle Lösung für die Agrarkrise. „Die radikalen Farmer leben in ihrer eigenen Blase.“ Für die Agrarexportführerschaft und die intensive Produktion zahle die Umwelt einen hohen Preis. Aber auch die Landwirte treffe die Fehlentwicklung, sie erleben „Bauern-Bashing“, öffentlichen Bedeutungsverlust, mangelnden Respekt ihrer Lebensleistung und ständig neue Auflagen und Reglementierungen.
Aufstand der Wahrheit oder Rechtsruck?
In Deutschland wird das Wahlergebnis verschieden kommentiert. Die Freien Bauern interpretierten den Erfolg der BBB als „Aufstand der Wahrheit gegen weltfremde Ideologien“. Andere warnen vor einem Rechtsruck. Vertreter von Bioland und AbL fürchten eine Polarisierung auch bei uns und mahnen endlich die Umsetzung der gemeinsamen Lösungsvorschläge von Borchert-Netzwerk und Zukunftskommission an.
Für den Beobachter ist es schwer vorstellbar, dass die holländischen Landwirte den Konflikt um die Stickstoffkrise in ihrem Sinne gewinnen werden, so berechtigt ihr Frust über eine mangelnde Anerkennung und ihr Aufbegehren für eine Zukunftsperspektive ist. Das holländische Agrarmodell der Intensivst- und Weltmarktproduktion trägt nicht mehr. Die neue Bewegung, die mit ihrem „historischen“ Wahlsieg gezeigt hat, dass sie unterschiedliche Interessen binden kann, hat eine Herkulesaufgabe vor sich. Sie wird beweisen müssen, dass sie mehr ist als eine „Ein-Punkt-Partei“ und eine Protestbewegung, die schnell an den Einzelinteressen zerbricht. Aber erst einmal wird sie die niederländische Politik in nächster Zeit rocken. Respekt!