„Für mich ist das krasses Politikversagen”

Unabhängige Bauernstimme: Herr Hofstetter, Sie sind Agraringenieur und nach vielen Jahren in der Wissenschaft zu Greenpeace gewechselt und dort vor allem im Landwirtschaftsbereich tätig. Sie haben die Gentechnik- und die Pestizidarbeit begleitet und sind jetzt als Political Advisor neben Landwirtschaft auch in die Greenpeace-Arbeit zu Wald eingebunden. Im Bereich Landwirtschaft macht Greenpeace seit längerem auf die Zustände in der industriellen Tierhaltung aufmerksam. Ist der Tierschutz nach dem Umweltschutz ein neues Betätigungsfeld der Organisation? Martin Hofstetter: Natürlich ist uns am Wohl der Tiere gelegen. Das ist ja eigentlich eine moralische Selbstverständlichkeit. Dass wir uns im Landwirtschaftsbereich aktuell stärker auf die Tierhaltung und aktuell auf die Düngeintensität konzentrieren, hat aber vor allem den Hintergrund, dass wir die Artenvielfalt, sauberes Grundwasser und Klima besser schützen wollen. Alle drei Bereiche hängen mit Qualität und Quantität der Tierhaltung zusammen. Es muss darum gehen, die Tierbestände vor allem wieder stärker an die Fläche zu binden, aus Klimagründen aber auch insgesamt abzubauen. Gleichzeitig muss auch der Konsum verändert werden. Das heißt, Sie wollen weniger landwirtschaftliche Betriebe? Überhaupt nicht, im Gegenteil. Ich denke, gerade kleinere, innovative Betriebe kommen mit neuen Herausforderungen besser zurecht. In der Tierhaltung wird es darum gehen, welche Haltungsverfahren mittelfristig noch zukunftsfähig sind. Und in den Intensivregionen stößt die Tierhaltung doch permanent an ökologische Grenzen. Genau hier entstehen ja die Probleme der intensiven Nutzung, der Überdüngung. Unsere Überlegung ist, wenn bei mehr Tierwohl 20 Prozent mehr Platz pro Tier vorhanden sein muss, dann reduziert sich bei gleicher Stallgröße die Tierzahl um etwa 20 Prozent. Das ist doch ein interessantes Angebot für Betriebe, wenn ich mehr pro Tier bekomme und gleichzeitig Gülleentsorgungskosten sparen kann. Weniger Tiere pro Betrieb bedeutet aber auch weniger Einkommen. Bei den Schweinepreisen, auch wenn sie aktuell etwas anziehen, wäre das für viele ökonomisch nicht darstellbar. Wieso, wenn ich bei weniger Tieren pro Tier mehr bekommen kann? Natürlich müssen die Landwirte kostendeckend arbeiten können. Aber eben nicht auf Kosten natürlicher Ressourcen. Neben neuer Anforderungen bei der Tierhaltung, dem Verbot der betäubungslosen Ferkelkastration und einem zu erwartenden Kupierverbot für Schwänze, steigen ganz aktuell durch die Düngeverordnung die Entsorgungskosten für Gülle. Und vom Bundesverfassungsgericht droht eine Normenkontrollklage, durch die die Nutztierhaltungsvorschriften verschärft werden. Das haben wir übrigens mit angeleiert. Die Landwirte müssen sich also bewegen. Einfach so weitermachen geht nicht mehr. Mag sein, dass durch die Afrikanische Schweinepest in China eine Zeitlang die Preise recht attraktiv sein werden, aber das wird zeitlich begrenzt sein. Wieso wenden Sie sich mit Ihren Aktionen dann an den LEH? In Hamburg haben Sie die Schaufenster einer „Netto-Filiale“ mit einem Bild tapeziert, das den Blick in einen vollen Schweinemaststall freigibt. Wir haben bei unserer Arbeit zu Gentechnik und Pestiziden die Erfahrung gemacht, dass es sinnvoll ist, die konzentrierte Struktur des LEH nicht nur zu kritisieren, sondern auch zu nutzen. Die einzelnen Unternehmen dort stehen in Konkurrenz zueinander, was eine zusätzliche Dynamik mit sich bringt. Bei der Gentechnikkampagne waren die Unternehmen noch überrascht: „Warum wir? Wir handeln doch nur mit den Produkten anderer?“ Aber inzwischen reagiert man dort schnell und nimmt die Kritik auf. Insbesondere gilt dies für deren Eigenmarken, für die dann neue Produktionsbedingungen festgelegt werden. Die Funktionäre des Bauernverbands fordern immer wieder verlässliche Rahmenbedingungen. Meist soll alles beim Alten bleiben. Trotzdem denkt man bei einem rechtlich verbindlichen Rahmen doch eher an die Politik als an den Handel? In der Landwirtschaftspolitik wird die Verantwortung immer hin- und hergeschoben: von den Ländern zum Bund und dann nach Europa. Vor dem Hintergrund der anstehenden Fragen zu Klima, Biodiversität und Grundwasserschutz, aber auch die ökonomische Situation der Betriebe betreffend, ist das politische Handeln von Unverantwortlichkeit geprägt. Für mich ist das krasses Politikversagen, wenn klare Vorgaben, wie bei der Ferkelkastration, zu engen Kastenständen oder auch Klimazielen, nicht politisch umgesetzt werden. Das heißt, Sie wollen über eine Kennzeichnung der Produktionsform Transparenz erzeugen und über eine gesteigerte Nachfrage die Produktion verändern? Eigentlich ist es die Aufgabe der Politik, klare Regeln und Standards festzulegen. Aber da passiert nichts. Die höheren Standards über die Lebensmitteleinzelhändler zu erreichen, ist ein alternativer Weg, der eigentlich zu einer unbefriedigenden Lösung führt. Besser wäre es, der Staat würde eine verpflichtende vollständige Haltungskennzeichnung einführen, gerne auch über den LEH hinaus bei der Außerhausverpflegung etc. Auch ist eine weitergehende Steuerung für einen Umbau der Tierhaltung nicht vom Handel zu erwarten. Hat der Handel Angst davor, von Ihnen an den Pranger gestellt zu werden, und wird deshalb aktiv? Auch. Ich glaube, der Handel sieht vermehrt die Einführung höherer Standards, die ja vom Verbraucher gefordert werden, als einen Teil seiner Marketingstrategie. Es geht um ein positives Image, das man vermitteln möchte. Und wir wissen doch: Allein mit Appellen an die Verbraucher kann man die Strukturen nicht ändern. Viele Kunden möchten Lebensmittel kaufen, ohne sich jedes Mal mit einer Vielzahl von Standards auseinandersetzen zu müssen. Damit wären die Verbraucher auch überfordert. Eigentlich ergibt sich hieraus ein direkter Auftrag an die Politik und die Kontrollbehörden. Aber die übernehmen diese Aufgabe nicht. Gibt es auch Vorteile durch die „direkte“ Kommunikation mit dem Handel? Ich glaube, dass der Handel deutlich flexibler ist, wenn es darum geht, die Kriterien weiterzuentwickeln. Vielleicht sind zehn Prozent mehr Platz bald nichts Besonderes mehr oder reichen nicht aus. Dann könnte man schnell auf 20 Prozent in der Einstiegsstufe gehen. Oder man integriert den Wunsch nach gentechnikfreien Futtermitteln auch dort. Auch wird an den aktuellen Kennzeichen kritisiert, dass die Tiergesundheit zu wenig Einfluss hat. Schlachtkörperbefunde und intakte Ringelschwänze könnten zukünftig Indikatoren für artgerechtes Verhalten und Tiergesundheit sein. Und wo bleiben die Bauern in diesem Spiel zwischen Politik, Handel und Verbraucher? Das bleibt sicher zu einem wesentlichen Teil eine Frage des Aushandelns. An dieser Stelle hilft es nur, den Organisationsgrad unter den Landwirten zu erhöhen und dadurch eine bessere Verhandlungsposition zu erlangen. Aber klar ist auch, dass, wenn man aus der Nische rauswächst und immer mehr Betriebe mitmachen, auch die Gefahr steigt, dass man austauschbar wird. Neben den Bauern sind die vielen unterschiedlichen Standards aber auch für die Verarbeiter eine Herausforderung. Bei einem Verarbeiter mit 200 Produkten vervierfacht sich die Menge, wenn er alle Stufen bedienen will. „Ohne Gentechnik“ oder „ohne Soja“ kämen dann noch dazu? Natürlich ist es für große Konzerne aufgrund der Mengen in jedem Segment vermutlich einfacher, alle Stufen anzubieten. Kleinere Betriebe werden sich auf wenige Stufen spezialisieren. Erst mal muss die Kennzeichnung aber flächendeckend eingeführt werden. Wir haben gerade die Wursthersteller abgefragt, wie sie zur Haltungskennzeichnung ihrer Produkte stehen, und haben in der Regel ablehnende Reaktionen bekommen. Aber ich bin sicher, das wird noch. Für die Erzeuger sind unterschiedliche Standards von Vorteil, wenn dadurch neue Märkte entstehen und höhere Preise gezahlt werden. Welche Rolle spielen die NGOs zukünftig in der Landwirtschaftspolitik? Es gibt ja wahnsinnig viele interessante Agrarthemen. In anderen Bereichen geht es durchaus vorwärts. Das Thema Atom ist quasi schon weg, bei Kohle geht es hoffentlich endlich vorwärts und auch der Verkehrsbereich wird sich in den kommenden Jahren massiv verändern. Ich schätze, die Landwirtschaft und Ernährung werden als Thema noch an Bedeutung gewinnen. Vor allem, wenn die Politik, allen voran Frau Klöckner als Bundeslandwirtschaftsministerin, ihre Aufgaben zur Gestaltung eines Umbaus der Tierhaltung hin zu mehr Tierwohl, aber auch mehr Arten- und Klimaschutz, nicht wahrnimmt, ja, dann werden die NGOs in diesem Bereich immer aktiver werden.
07.05.2019

MArtin Hofstetter, Greenpeace