EU-Agrarsystem steht an der Wand – Bäuerinnen und Bauern sollen die Suppe auslöffeln!

Vor dem Hintergrund der in den Niederlanden stattfindenden massiven Proteste gegen das niederländische Stickstoffgesetz findet sich im Mitglieder-Info KW 27/2022 des Bundesverband Deutscher Milchviehhalter (BDM) vom 8. Juli 2022 folgender Text, den wir hier mit freundlicher Genehmigung wiedergeben.

Jahrzehnte lang galt in der EU-Agrarpolitik die Prämisse „Produzieren, was das Zeug hält“, oder anders dargestellt, „Produzieren bis der Arzt kommt“, je mehr und je billiger, umso besser. Das wurde uns in unserer Ausbildung immer und immer wieder eingetrichtert.
Besonders stark ausgefeilt wurde dieses System, politisch gefördert und proklamiert in den Niederlanden.
Seit Jahrzehnten gelten die Niederlande als Weltspitze in effizienter und innovativer Landwirtschaft – in dieser Ausrichtung stark gefördert von Politik, den Verbänden der Agrarindustrie und dem Bankensektor. Mit einer Fläche, die gerade mal der Fläche von Nordrhein-Westfalen entspricht, und rund 53.000 landwirtschaftlichen Betrieben sind die Niederlande nach den USA zum zweitgrößten Agrarexporteur der Welt geworden.
Busweise gab es Lehrfahrten für uns deutsche Bäuerinnen und Bauern in die Niederlande – mit dem Ziel von den wesentlich effizienter wirtschaftenden Nachbarn zu lernen und es ihnen gleichzutun. Höchst beeindruckt zeigte man sich von Grasbeständen, die dunkelgrün leuchteten sowie anderen Feldfrüchten mit enormem Massenwachstum. Mit Staunen wurden auch die Kuhställe begutachtet – so viele Tiere und in Relation dazu so wenig Futterfläche, ein GV-Besatz, der für viele Kollegen in Deutschland Neuland und eigentlich unvorstellbar war. Weit weniger begeistert waren viele vom daraus folgenden so genannten „Gülle-Tourismus“ nach Deutschland.
Nun schlägt dieses System sozusagen zurück. Durch ein Urteil des höchsten Verwaltungsgerichts der Niederlande wurde die Regierung zum Handeln gezwungen. Der Stickstoffausstoß muss um durchschnittlich 50 % gesenkt werden, je nach Region wird von 12 bis 70 % ausgegangen. Angrenzend zu Naturschutzgebieten würde sogar eine Reduktion von 95 % vorgegeben, was in 131 besonders belasteten Gebieten zu einer Schließung von Betrieben führen wird.
Seit 30 Jahren sei die Problematik bekannt und habe sich durch unterlassenes Handeln der Politik sogar noch zugespitzt, wird berichtet. Umstellung auf extensivere Betriebsformen, Umsiedelung oder Beendigung waren und sind die Optionen, die die Landwirte haben. Die höchstrichterlich vorgegebene Reduktion, die viele Betriebe zur Beendigung zwingen kann, soll nun mit freiwilligen Betriebsaufgaben, Aufkaufprogrammen sowie im Falle von nicht zu erreichender Reduktion des Stickstoffausstoßes bis Januar 2023 sogar mit Enteignungen erreicht werden. Interventionsmaßnahmen dazu sollen im Oktober ausgearbeitet werden. Die Regierung geht von einem Rückgang der Betriebe um bis zu 30 % aus. Mit einem mit 25 Mrd. Euro ausgestatteten Stickstofffonds sollen die Maßnahmen finanziert werden.
Schon 2019 haben niederländische Bäuerinnen und Bauern unter der Flagge von Farmers Defense Force massiv gegen dieses Stickstoffgesetz demonstriert. Es gab Forderungen, die Schwellenwerte für den Stickstoffausstoß zu erhöhen wie auch die, dass alle Bauvorhaben und Betriebserweiterungen, die "fälschlicherweise" eine Genehmigung erhalten haben, legalisiert werden sollen. Eine weitere Überlegung war, den Proteingehalt in den Futterrationen abzusenken. Von Einschränkungen betroffen ist auch die Bevölkerung, es wurde ein Tempolimit auf Autobahnen (100 km/h) vorgeschlagen, 18.000 Bau- und Infrastrukturmaßnahmen wurden gestoppt, um den Stickstoffausstoß durch Bautätigkeit zu reduzieren. Für viele Gebiete wurde ein Genehmigungsstopp für die Ausweisung von Baugebieten verhängt. Für Naturschutz und Renaturierungsmaßnahmen wurden öffentliche Gelder bereitgestellt. Wirklich verbessert haben die bisher umgesetzten Maßnahmen nichts.
Eine Ankündigung der seit Jahresbeginn im Amt befindlichen Ministerin für Natur und Stickstoffausstoß, nun ernsthaft an die Problemlösung heranzugehen, hat die Proteste erneut und sehr heftig aufflammen lassen. Für viele der betroffenen Betriebe würden die Maßnahmen harte Einschnitte bis hin zur Betriebsaufgabe bedeuten. Dass dies den betroffenen Familien Angst macht – gerade wenn man sein Lebenswerk in Frage gestellt sieht – können wir sehr gut nachfühlen. Die Forderung, dieses Stickstoffgesetz zurückzunehmen, ist aus ihrer Sicht mehr als verständlich, dürfte jedoch angesichts der massiven Umweltprobleme unrealistisch sein.
Ein „Weiter so wie bisher“ kann es aus Sicht des BDM auch nicht geben. Die Ausrichtung der EU-Agrarpolitik hat die Intensivierung der Landwirtschaft verursacht, massiv vorangetrieben und damit die Landwirtschaft in eine Sackgasse manövriert. In den Niederlanden hat man die Intensivierung sicherlich in sehr ausgeprägter Form praktiziert, daher sind jetzt die Brüche hier umso stärker zu beobachten.
Mit Sorge beobachten wir, dass mit Gerichtsentscheidungen und Ordnungsrecht korrigiert werden soll, was in der Marktausrichtung falsch läuft. Das geht voll auf Kosten der Landwirtschaft und betrieblicher Existenzen. Jede Änderung der Marktausrichtung aber wurde bisher von der Verarbeitungs- und Ernährungsindustrie blockiert, die bisher allein von dieser Politikausrichtung profitiert hat.
Notwendiger denn je ist eine Agrar- und Umweltpolitik „aus einem Guss“. Solange sich eine Marktausrichtung, die nur über Intensivierung funktioniert und Umweltziele, die nur über eine Extensivierung erreichbar sind, grundsätzlich widersprechen, werden bäuerliche Existenzen regelrecht „zerrieben“. Ein Festhalten und Verteidigen dieses Systems kann für den BDM nicht das Ziel sein. Dazu gehört ehrlicherweise, dass sich auch die landwirtschaftliche Branche nicht grundsätzlich gegen jede Veränderung sperren darf, da dies letztlich sozialverträgliche notwendige Veränderungen verhindert und zu massiven Brüchen wie in den Niederlanden führt.
Wenn ein verstärktes Wirtschaften in Kreisläufen Ziel sein soll, wenn damit auch Tierbestände gleichmäßiger verteilt werden müssen und ein marktangepasstes Produzieren notwendig wird, darf dies nicht in erster Linie durch Betriebsaufgaben gelöst werden. Tierhaltung und auch Umweltleistungen müssen sich rechnen, damit der Intensivierungszwang in der Landwirtschaft durchbrochen werden kann.
Wenn wir wirklich etwas verändern wollen, müssen wir konstruktive Vorschläge machen, sagen, wie eine Politik aussehen muss, um der Landwirtschaft eine Zukunftsperspektive zu ermöglichen. Wir vom BDM haben mit der BDM-Sektorstrategie 2030 Vorschläge gemacht, mit denen die wirtschaftliche Situation unserer Betriebe deutlich gestärkt und in diesem Zusammenhang den Belangen von Umwelt-, Klima- und Naturschutz sowie Tierwohl entsprechend Rechnung getragen werden kann.
Um die Umsetzung der vorliegenden, marktwirtschaftlichen Strategien und Ziele schneller voranzutreiben, sind öffentlichkeitswirksame und medial Aufmerksamkeit erregende Aktionen sicher notwendig. Bauern und Umwelt brauchen eine Chance – dafür müssen Aktionen mit konkreten Vorschlägen verbunden werden, wie notwendige Veränderungen gestaltet werden können.

12.07.2022
Von: FebL/BDM-Mitglieder-Info