Den Osten nicht abschreiben

„Rein ökonomische Betrachtungsweisen haben die Gesellschaft noch nie vorangebracht“, warnt der Vorsitzende des Bundes der Deutschen Landjugend (BDL) e.V., Sebastian Schaller, vor einer Überbewertung der jüngsten Publikation des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH). Bei der Vorstellung der IWH-Publikation „Vereintes Land - drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall“ hatte IWH-Präsident Reint Gropp die Bestrebungen der Bundesregierung nach Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse als „unrealistisch und falsch“ bezeichnet und empfohlen, die Städte statt ländlicher Räume zu fördern und dieses unter anderem mit Zahlen zur Produktivität in Ost und West, zur Entwicklung von Stadt und Land sowie zur Fachkräftesituation begründet. Das mag nach Ansicht des BDL aus rein wirtschaftstheoretischer Sicht eine mögliche Schlussfolgerung sein. „Doch sie zeugt im Kern von einer grundlegend falschen Herangehensweise an Gesellschafts- und Regionalentwicklung“, stellt der BDL-Bundesvorsitzende fest. Denn rein ökonomische Prinzipien bringen weder das Land noch die Gesellschaft weiter. Zudem heiße Gleichwertigkeit nicht Gleichheit. Es gehe nicht darum, alles gleichzumachen, sondern Chancengerechtigkeit sicherzustellen, heißt es im größten Jugendverband im ländlichen Raum unter der Überschrift „Den Osten nicht abschreiben“. „Fassungslos“ zeigt sich der Berichterstatter für ländliche Räume der SPD-Bundestagsfraktion Dirk Wiese angesichts der IWH-Schlussfolgerungen. „Dass das Leibniz-Institut eine reine volkswirtschaftliche Analyse Ostdeutschlands unternommen hat, greift viel zu kurz. Wissenschaft muss für alle Menschen in der Gesellschaft Fortschritt ermöglichen und sollte nicht vorschlagen, die Hälfte der Bevölkerung auszuklammern. Dass sogar der Verfassungsauftrag zur Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Frage gestellt wird, macht sprachlos. Damit werden die Potentiale und die Herausforderungen der ländlichen Räume gleichermaßen ignoriert“, erklärt er. Kritische Töne zu den Äußerungen des IWH-Präsidenten kommen auch von Manuela Schwesig (SPD), Regierungschefin in Mecklenburg-Vorpommern, ihrem Kollegen Reiner Haseloff (CDU) aus Sachsen-Anhalt und Thüringens Regierungschef Bodo Ramelow (Die Linke). “Im ländlichen Raum wohnen und leben Menschen, die ihre Heimat lieben“, schreibt Ramelow im Tagespeigel. Er sieht in der angeblichen Produktivitätslücke zwischen Ost und West einen statistischen Effekt, der die Wirklichkeit keineswegs angemessen abbilde. „Vom IWH in Halle hätte ich erwartet, dass man nicht nur oberflächliche statistische Effekte betrachtet, sondern sie vor allem hinterfragt“, so Ramelow, der ländliche Räume nicht aufgeben, sondern die örtlichen Kooperationen von Wirtschaft und Kommunen stärken und Infrastruktur ausbauen will. „Wir brauchen deshalb 5G an jeder Milchkanne, denn auch unsere Landwirtschaftsbetriebe sind sehr modern, digital und ein starker Träger im ländlichen Raum. Wer ein High-Tech-Melkkarussell sehen will, zu dem die Fachleute aus der ganzen Welt kommen, dem sei der Besuch in Remda-Teichel empfohlen. Die Agrargenossenschaft investiert Millionenbeträge, Ingenieurarbeit und Landwirtschaft sind eben kein Gegensatz“ erklärt Ramelow. Aus Sicht des BDL ist das ökonomische Betrachtungsprinzip zugunsten der alleinig sinnvollen Maxime der Daseinsvorsorge abzulösen. Denn es gehe darum, den Menschen in ihrer Heimat und in ihrem Lebensraum Perspektiven zu verschaffen. Und zwar nicht nur im Osten! Die BDL-Bundesvorsitzende, die gemeinsam mit Sebastian Schaller rund 100.000 ehrenamtlich Aktive vertritt, weiß auch: „Vieles wäre nicht geschehen, wäre man allein dem ökonomischen Prinzip der Gewinnmaximierung gefolgt. Denn so funktionieren Gesellschaft, Gemeinschaft und Demokratie nicht.“
08.03.2019
Von: FebL/PM

Foto/Montage: BDL