Mit Menschlichkeit gegen den Strich bürsten

Ein Beitrag des katholischen Priesters Peter Kossen zur gegenwärtigen Ausrichtung der Debatte über Migration:

In unserem Land wird zurzeit in höchst fragwürdiger Weise über Migrantinnen und Migranten diskutiert. Es wird der Eindruck erweckt, als seien sie viel zu viele und insgesamt eine Überforderung. Da möchte ich entschieden gegenhalten: Einfache Zahlen belegen, wie absurd diese Diskussion ist: 18 Millionen Menschen der sogenannten „Babyboomer“-Generation gehen in den nächsten 13 Jahren in den Ruhestand, elf Millionen Menschen werden im gleichen Zeitraum volljährig. Da tut sich bei uns in diesen wenigen Jahren eine Lücke von sieben Millionen fehlenden Arbeitskräften auf. Dabei ist Ostdeutschland die demografisch älteste Region der Welt, älter noch als Japan, Chemnitz die demografisch älteste Großstadt der Welt. Aufgrund der Überalterung braucht Deutschland einen „Nettozuzug“ von mindestens 400.000 Menschen jährlich. Unsere Wirtschaft geht in die Knie, wenn nicht mindestens so viele Menschen jedes Jahr neu zu uns kommen.
Jenseits der „Brauchbarkeit“ von Migrant:innen ist es eine Frage der Menschlichkeit und der Würde, mit welcher Haltung unsere Gesellschaft mit solchen umgeht, die ihre Heimat aus verschiedenen Gründen zu verlassen gezwungen waren. Zurzeit wird Stimmung gegen Migration jeder Art in Deutschland gemacht. Migranten geraten unter Generalverdacht, werden Projektionsfläche diffuser Ängste und ungelöster gesellschaftlicher Probleme. Viele wissen, dass einfache Erklärungen nicht taugen. Wo sind die Kirchen, die unbeirrbar dagegenhalten? Gerade jetzt, vor der Bundestagswahl und mit den Ergebnissen der Wahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg, muss klar sein: Feigheit vor dem Mainstream ist für Christen keine Option! Weltoffenheit, Solidarität und Differenzierung sind viel besser begründet als Ausgrenzung und Abschottung.

Zusammen leben
Mit Blick auf den Wirtschaftsstandort Deutschland: Wie verlogen ist es, wenn die deutsche Gesellschaft in vielen Dienstleistungen Drecks- und Schwerstarbeit von Migrant:innen gern und selbstverständlich annimmt und dann den gleichen Menschen mangelnde Integration vorwirft? Aus der Arbeit mit den modernen Sklaven der Fleischindustrie weiß ich, dass, wer sechs Tage in der Woche und elf Stunden am Tag schuftet, danach kein Deutsch mehr lernt. Die Alten- und Krankenpflege, die Lebensmittelproduktion, die Gemüseernte, die Paketdienste, die LKW-Fahrer, die Hotellerie, die Gastronomie und der Bausektor sind alles Beispiele für Branchen, die ohne migrantische Arbeitskräfte in Deutschland überhaupt nicht mehr funktionieren würden. Die größere Verantwortung für gelingende Integration liegt bei der aufnehmenden und profitierenden Gesellschaft, also bei uns. Wir müssen dafür sorgen, dass das Zusammenleben von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund in unserem Land gut funktioniert
Mein Bruder Florian ist Arzt im Landkreis Vechta. Kürzlich erzählte er mir von einem Patienten, einem Mann aus Bulgarien, der in einem großen Putenschlachthof im Landkreis Oldenburg arbeitet. Zusammen mit zwei Kollegen muss er täglich in einer gut zwölfstündigen Schicht 26.500 geschlachtete Puten aufhängen, das sind ungefähr 9.000 Tiere pro Person, das sind mehr als zweihundert Tonnen Fleisch pro Arbeiter in einer zwölfstündigen Schicht, sechs Tage in der Woche. Er verdient bei 280 Arbeitsstunden im Monat 1.400 Euro. Das sind genau fünf Euro pro Stunde für diese Schwerstarbeit. Wie am Niederrhein und anderswo wohnen die Arbeiter in Bruchbuden und zahlen dafür Wuchermieten. Vor einiger Zeit berichtete mein Bruder von einem Patienten, der aktuell als Reinigungskraft auf einem Geflügelschlachthof arbeitet: elf Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche. Dieser Mann konnte nicht mehr sagen, wie lange er das schon so machen muss …

Parallelwelten
Mein Bruder sieht als Arzt jeden Tag, dass diejenigen, die es trotz der Menschenschinderei schaffen, über mehrere Jahre durchzuhalten, chronische Leiden davontragen. Durch die harte körperliche Arbeit in feuchten und sehr kalten Räumen unter ständigem Druck, noch schneller zu arbeiten, ist auch der Stärkste irgendwann physisch und psychisch am Ende. Durch die Arbeitszeiten sind die Betroffenen über Jahre hin nicht in der Lage, Sprachkurse oder Integrationsangebote wahrzunehmen. So sprechen viele kaum Deutsch. Rund um die Uhr haben sie bereitzustehen, Überstunden werden nicht selten spontan angeordnet. Die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in den Wohnorten ist dadurch sehr erschwert oder unmöglich. Eine Integration der Arbeiter, und jetzt verstärkt auch ihrer Familien, kann so kaum stattfinden. Parallelwelten sind entstanden. Ein Übriges tut die auf Abschottung angelegte Unterbringung. Arbeitsmigranten hausen – zum Teil mit Kindern – auf Campingplätzen oder in verschimmelten Bruchbuden. Alteingesessene Bürger zocken sie dafür mit Wuchermieten ab.

Sind wir bereit, zu teilen?
Ausbeutung von Menschen, Sklaverei, funktioniert bis heute immer da, wo Menschen als Nummer geführt werden, wo sie kein Gesicht haben, keinen Namen und keine Geschichte. Osteuropäische Arbeitsmigranten sind uns meist nicht persönlich bekannt: Sie leben unter uns und sind doch Bürger einer dunklen Parallelwelt, eine große anonyme Gruppe, eine „Geisterarmee“. So werden sie ohne Aufsehen und ohne schlechtes Gewissen ausgebeutet, betrogen und gedemütigt. „Die Polin“, die Meiers Oma pflegt, die hat ja keinen Vornamen. Genauer gesagt interessiert sich niemand für ihren Vornamen, obwohl sie schon das dritte Mal bei Meiers ist. Und „der Rumäne“, der bei Müllers auf dem Hof arbeitet, dem geht es genauso, das ist „Müllers Rumäne“. Zynisch gesprochen: Wenn ich keinen kenne, tut es auch gar nicht so weh, wenn sie ausgebeutet werden. Ich bin überzeugt, dass entscheidend für eine nachhaltige Bekämpfung solcher Not, die Menschen zwingt, aus ihrer Heimat wegzugehen, unsere Antwort auf die Frage ist: Wollt ihr nur helfen oder wollt ihr auch teilen? Nur die Bereitschaft zum Teilen hat das Potential, die Güter der Erde gerecht zu verteilen und Migrationsursachen dauerhaft zu bekämpfen. Das gemeinsame Haus ist die Lösung, nicht die Festung Europa!

24.12.2024
Von: Peter Kossen, Menschenrechtsaktivist und katholischer Priester im Bistum Münster