Die Pläne des Einzelhandels, Weidemilch künftig der Haltungsform-Stufe 3 im neuen 5-stufigen Haltungsform-Kennzeichnungssystem zuzuordnen, lehnen die niedersächsische Landwirtschaftsministerin Miriam Staudte sowie weitere Partnerinnen und Partner eines breiten Bündnisses ab und haben sich daher mit einem Brief an Haltungsform.de, die Gesellschaft zur Förderung des Tierwohls in der Nutztierhaltung mbH, gewendet. Zu den Unterzeichnenden des Briefs gehören das Grünlandzentrum, die Arbeitsgemeinschaft bäuerlicher Landwirtschaft e. V. (AbL), der Bund deutscher Milchviehhalter e. V. (BDM), Greenpeace, das Landvolk Niedersachsen, Land schafft Verbindung, der NABU, Provieh e. V. sowie Vision 360 Agrar.
Hintergrund ist eine neue Kennzeichnung des Lebensmittelhandels für Milch und Milcherzeugnisse und damit auch eine neue Einordnung der Weidemilch. Weidemilch soll künftig mit Milch aus Laufstallhaltung oder aus einem Offenfrontstall weiterhin auf einer Stufe stehen. Dies bedeutet: Die mit zusätzlichem Aufwand erzeugte Weidemilch befindet sich in einem Topf zusammen mit Milch, die nicht auf der Weide erzeugt worden ist. Das so wichtige und eingängige Merkmal der Weidehaltung als Alleinstellungsmerkmal für ein hohes Maß an Tierwohl würde also künftig nicht in der Form genutzt werden, wie es seiner Bedeutung entspricht, denn: Eine angemessene Bezahlung für dieses Mehr an Leistung lässt sich den Erzeugerinnen und Erzeugern von Weidemilch nicht mehr zuordnen.
Bisher war es nur möglich, Weidemilch zu höheren Preisen zu vermarkten, wenn eine gesonderte Abholung von den landwirtschaftlichen Betrieben und eine separate Verarbeitung in den Molkereiunternehmen gewährleistet waren. Im bisherigen System war die Weidemilch bedauerlicherweise der Stufe 3 („Außenklima“) zugeordnet. Die erneute Einordnung in Stufe 3 mit der Betitelung „Frischluftstall“ würde aus Sicht des Bündnisses eine weitere Schlechterstellung bedeuten.
Ein „falsches Signal“ sieht Miriam Staudte in den Kennzeichnungsplänen des Handels: „Die meisten Weidemilchkühe stehen im Bundesvergleich in Niedersachsen. Daher haben wir ein hohes Interesse, dass diese Art der Tierhaltung von einer neuen Kennzeichnung profitiert. Die jetzigen Planungen würden gegenteilig wirken: Sie verstecken die Weidemilch hinter der Kategorie Frischluftstall. Die Weidehaltung leistet einen wichtigen Beitrag zum Erhalt von unserem wertvollen Grünland in Niedersachsen mit seinen vielfältigen Funktionen für den Wasser- und Naturhaushalt. Außerdem ist sie auch die artgerechteste Form der Rinderhaltung. Die Weidetierhaltung nun lediglich der neuen Stufe 3 zuzuordnen, ist ein völlig falsches Signal und erreicht das Gegenteil von dem, was gesellschaftlich gewünscht ist, nämlich dass weniger Tiere auf der Weide stehen werden.“
Das Bündnis fordert, dass die vielfältigen Effekte der Weidehaltung zwingend einer Haltungsstufe, die diese Bezeichnung auch beinhaltet, vorbehalten sein sollte – nämlich der Stufe 4. Konkret bietet es sich hier an, aus der Haltungsstufe 3 das Kriterium „Laufstallhaltung mit Weidegang (mind. 120 Tage a´ 6 Stunden)“ herauszulösen und in die Stufe 4 zu verschieben. Das Kriterium „Laufstallhaltung mit ganzjährig nutzbarem Laufhof…“ müsste dann gestrichen werden. Die Bezeichnung der Stufe 4 würde dann „Haltungsstufe 4 - Weide“ lauten. Mit diesem Schritt könnte der mit der Weidehaltung verbundene Mehraufwand zielgerichtet und angemessen entlohnt werden. Der Handel könnte so ein starkes Signal setzen und zeigen, dass ihm die Verbesserung des Tierwohls sowie der Erhalt wertvollen Grünlandes am Herzen liegt.
Dazu erklärt Ottmar Ilchmann, Milchbauer und Landesvorsitzender der AbL Niedersachsen/Bremen: „Bei einer Neuordnung der Haltungsformstufen muss das Label "Pro Weideland" unbedingt in die Stufe 4 "Weidehaltung" aufrücken. Nur so können die vielfältigen Leistungen der Weidehaltung angemessen in Wert gesetzt werden. Wir fordern den Handel auf, die irreführenden Kennzeichnungspläne zu ändern.“
Das Aus für Weidebetriebe und eine Täuschung der Verbraucher sieht Dr. Arno Krause, Geschäftsführer des Grünlandzentrum Niedersachsen/Bremen: „Die Produktionskriterien von ‚Pro Weideland‘ sind das Ergebnis eines breiten Stakeholderdialogs, der sich aus Vertretern des Natur- und Umweltschutzes, des Tierschutzes, der Landwirtschaft sowie Politik und Wissenschaft zusammensetzt. Die in diesem Konsensprozess geschaffenen Kriterien stellen einerseits einen hohen gesellschaftlichen Anspruch dar, andererseits bilden sie eine landwirtschaftliche Praktikabilität ab, durch welche die unterschiedlichen Weideregionen Deutschlands erreicht werden können. Das 5-stufige Modell der Haltungsform ist mit seinen vorgeschlagenen Kriterien nicht kompatibel zu den etablierten Kriterien von ‚Pro Weideland‘ und würde derzeit keine Eingruppierung in die für die Weidehaltung vorgesehene Stufe 4 ermöglichen. Mit einer Eingruppierung in Stufe 3 würde die Weidehaltung als eine Variante von Stallsystemen eingruppiert und so die Werthaltigkeit von Weidesystemen herabgesetzt werden. Das wäre mittel- bis langfristig das Aus für Weidebetriebe und somit eine Täuschung von Verbrauchern, die sich mit dem Kauf von ‚Pro Weideland‘ gelabelten Produkten für den Erhalt von Weidehaltung entschieden haben.“
Die Notwendigkeit einer entsprechenden Kennzeichnung unterstreichen auch die Vertreter:innen der weiteren Verbände im Bündnis.
Steffen Hinrichs, Kreisteamleiter des BDM: „Die Weidehaltung sorgt für eine hohe Biodiversität und Artenvielfalt, und ist durch den Wolf schon genug belastet. Weitere Stolpersteine wären fatal. Die vom Handel geforderte Haltungsstufe 4 für die Weidehaltung mit einem Laufhof ist von vielen Betrieben wirtschaftlich nicht leistbar und würde den Landwirten Kosten verursachen, die vom Handel doch nicht honoriert werden.“
Frank Kohlenberg, Vize-Präsident des Landvolks Niedersachsen: „Das Landvolk steht für eine Weidehaltung und die damit einhergehende Milchproduktion. Die Weidehaltung ist ein wichtiger Grundstein, um die Biodiversität und Artenvielfalt sowie den Natur- und Wasserhaushalt zu wahren und positiv zu gestalten. Weidehaltung sollte dort zielführend umgesetzt werden, wo es von Seiten der Bonitäten passt. Grundsätzlich ist Weidehaltung aber mit einem höheren Aufwand für den Tierhalter verbunden, dieser muss sich in höheren Erlösen für den Tierhalter widerspiegeln. Deshalb ist es für unsere Milchviehhalter sehr wichtig, dass die Weidehaltung in die Haltungsform 4 eingestuft wird. Nur so ist ersichtlich, dass Milch dieser Haltungsform einen höheren Standard besitzt, wodurch beim LEH höhere Preise erzielt werden können.“
Anne Hamester, Geschäftsführerin von PROVIEH, Deutschlands Organisation für Nutztierschutz: „Weidehaltung ist die artgemäße Haltungsform von Rindern und im Vergleich zur ganzjährigen Stallhaltung eine Wohltat für die Tiere! Die Gesellschaft wünscht sich Milch von Kühen auf der Weide – und sollte sie auch im Supermarkt unmissverständlich wiederfinden, um diese Haltungsform zu fördern. Der Handel muss jetzt Wort halten und sein Versprechen für mehr Tierwohl einlösen: Weidehaltung gehört in die Haltungsstufe 'Weide' und nicht in eine Haltungsstufe Stall.“
Stephanie Töwe, Landwirtschaftsexpertin Greenpeace: „Die Weidehaltung von Kühen ist für den Artenschutz immens wichtig und für die Umsetzung des Staatsziels Tierschutz unerlässlich. Die Pläne des deutschen Einzelhandels, Weidemilch-Betriebe mit Betrieben gleichzusetzen, in denen Kühe nie eine Wiese betreten werden, ist nicht hinnehmbar. Milch, die aus einer für Klima, Tier und Artenvielfalt richtungsweisenden Haltung stammt, verkommt so zum Nischenprodukt. Hier zeigt sich, was passiert, wenn die Bundespolitik hinterherhinkt und es der Wirtschaft überlässt, Kriterien für eine Haltungskennzeichnung zu etablieren.“
Dr. Christine Tölle-Nolting, Teamleiterin Landnutzungspolitik beim NABU: „Die Weidehaltung leistet einen wichtigen Beitrag für den Erhalt der Artenvielfalt. Wird sie jedoch nur in Haltungsstufe 3 eingeordnet, könnten wir etliche Weidehalter und damit die wichtigen Ökosystemleistungen der Weiden verlieren. Statt weiterer Hürden müssen Landwirte und Landwirten angemessen für die Weidehaltung entlohnt werden - etwa über eine weitere Förderung des Staats oder höhere Marktpreise. Dazu muss der Verbraucher und die Verbraucherin klar erkennen können, welche Betriebe und Produkte einen Mehrwert für Tier und Artenvielfalt liefern.“
Zum Hintergrund
Die Haltungsform-Kennzeichnung ist eine bisher vierstufige Siegel-Klassifikation für tierische Erzeugnisse, die die Tierwohl-Siegel entsprechend ihren Anforderungen an die Tierhalter und dem sich daraus ergebenden Tierwohl-Niveau einordnet. Die Kennzeichnung finden Verbraucherinnen und Verbraucher derzeit auf Verpackungen bei ALDI Nord, ALDI SÜD, Bünting Gruppe, EDEKA, Kaufland, LIDL, Netto MarkenDiscount, PENNY und REWE. Trägerin der Haltungsform-Kennzeichnung ist die Gesellschaft zur Förderung des Tierwohls in der Nutztierhaltung mbH. Neu ist, dass die bekannte Haltungsform-Kennzeichnung künftig fünfstufig werden soll: Die bislang vierte Stufe wird aufgeteilt, für Bio-Programme soll es eine separate fünfte Stufe geben. Die Änderungen sollen im Sommer 2024 in Kraft treten.