Letzte Chance

Es braucht scheinbar immer erst einen Super-GAU, damit Bewegung in Dinge kommt, die über Jahre in politischer Diskussion sind. Die Atomkraft brauchte Fukushima, damit es einen politischen Konsens zum Ausstieg aus der Kernenergie geben konnte, der Umbau der Tierhaltung nun offenbar einen Coronaausbruch in Deutschlands größtem Zerlegebetrieb in Rheda-Wiedenbrück. Lange sind die Missstände um Werkverträge in der Schlachtbranche bekannt, ebenso die Probleme in der Nutztierhaltung. Seit 20 Jahren wollten die zuständigen Minister Funke, Künast, Aigner und Schmidt etwas ändern. Geschehen ist außer vielen Diskussionsrunden innerhalb und außerhalb des Ministeriums wenig. Und auch Frau Klöckner tat sich bislang sehr schwer damit, das Thema in Angriff zu nehmen. Das freiwillige Tierwohllabel drohte zum Ladenhüter des Ministeriums zu werden. Zu den Vorschlägen des Kompetenznetzwerks Nutztierhaltungsstrategie, welches sie unter der Leitung des ehemaligen Ministers Jochen Borchert selbst eingerichtet hatte, äußerte sie sich bis zum Bekanntwerden des massiven Coronaausbruchs nicht klar, obwohl es ein breites Bündnis von fast allen Umwelt- und Bauernorganisationen gibt, die die Vorschläge unterstützen. Doch jetzt kommt scheinbar Bewegung in die Diskussion über Probleme mit „Billigfleisch“. Die Landwirtschaftsministerinnen vom Bund und aus den Ländern Niedersachsen und Nordrhein Westfalen, Klöckner, Otte-Kinast und Heinen-Esser, luden zum Fleischgipfel nach Düsseldorf. Geladen waren Vertreter aus Landwirtschaft, Fleischindustrie, Umwelt- und Tierschutzverbänden, der Wissenschaft und dem Handel, zugeschaltet aus der Quarantäne Clemens Tönnies. Es ging um die Ausbeutung der Mitarbeiter in den Schlachthöfen, um Dumpingangebote in den Supermärkten und die zukünftige Form der Tierhaltung. Die Fleischindustrie um Vion, Westfleisch und Tönnies beteuert, Werkverträge bis zum Jahresende abschaffen zu wollen und alle Mitarbeiter direkt anzustellen. Die Ministerinnen werben für die von der Borchert-Kommission vorgeschlagene Abgabe auf Fleischprodukte, um den Umbau der Ställe zu finanzieren. Angebote in Supermärkten unter den Erzeugungskosten sollen der Vergangenheit angehören. Es kommt wenig Gegenwind von denen, die bisher vom billigen Fleisch profitiert haben: dem Handel und den großen Schlachthöfen. Sie hätten es in der Hand gehabt, mit der Veränderung des Systems anzufangen und Premiumfleisch ins Sortiment zu nehmen und zu bewerben. Als jemand, der die gesamte Entwicklung seit 20 Jahren verfolgt, kommen mir Zweifel, wie ernst es der Politik mit den angekündigten Veränderungen ist. In den letzten 20 Jahren war ein System gefördert worden, das uns jetzt vor große Probleme stellt. Jahrzehntelang musste sich jede Forderung nach mehr Tier- und Menschenschutz, nach bäuerlichen Strukturen in der Landwirtschaft, aber auch zur Größe des nachgelagerten Schlachthofbereichs der Frage nach Kostenführerschaft unterwerfen. Die drei Ministerinnen haben auf ihrer Pressekonferenz am letzten Freitag von der letzten Chance gesprochen, dieses System nun zu verändern. Wir müssen sie beim Wort nehmen, denn wir Landwirte sind diejenigen, die in Mithaftung genommen werden, wenn es um das Thema Massentierhaltung geht. Wir brauchen jetzt einen klaren Schulterschluss der Verbände, um diese Veränderungen voranzutreiben. Mitte Juni sagte ein Wirtschaftswissenschaftler in einem Interview, dass wir in Deutschland viele Bereiche von der Massenproduktion auf die Qualitätsproduktion umstellen müssten, um am Markt bestehen zu können. Auch beim Fleisch würde er eine große Chance sehen. Am Ende könnten alle profitieren, die Landwirte, die Mitarbeiter der Schlachthöfe, die Tiere, das Grundwasser, der Regenwald, das Klima und natürlich auch der Verbraucher. Lasst uns die letzte Chance jetzt nicht verstreichen lassen!
06.08.2020
Von: Martin Schulz, AbL-Bundesvorstitzender

Martin Schulz, AbL-Bundesvorstitzender