Von Kälbern und Kanarienvögeln

„Kälber billiger als Kanarienvögel“ – auf diese plakative, aber wirkungsvolle Schlagzeile reduzierte der Spiegel ein Problem, das seit Monaten allen Milchviehhaltern bekannt ist: Bullkälber, die zur Mast verkauft werden, sind im Preis sehr gefallen, und Kuhkälber, die sich zur Zucht nicht eignen, wie kleine Färsenkälber oder Zwicken aus Zwillingspärchen sind im Grunde gar nichts mehr wert. Kleine, leichte Kälber nehmen die Viehhändler in Norddeutschland überhaupt nicht mehr mit, der Bauer muss sehen, wo er damit bleibt. Die Schlagzeile traf offenbar einen Nerv in unserer Mediengesellschaft, denn viele Zeitungen nahmen das Thema auf und berichteten über den Preisverfall bei Kälbern. Die Gründe für die Niedrigpreise sind vielfältig. Der Bauernverband verweist auf die Handels- und Exportbeschränkungen in vielen Regionen Süddeutschlands infolge der Blauzungenkrankheit. Eine wichtige Rolle spielt sicher auch der in vielen Gegenden herrschende Futtermangel im zweiten Dürrejahr. Gerade in klassischen Bullenmastregionen wie dem Raum Südoldenburg führt eine schlechte Silomaisernte dazu, dass Mäster weniger Kälber aufstallen. Die Bullenmast ist häufig noch ein zweites Standbein bäuerlicher Milchviehbetriebe, und wegen des knappen Futters fällt die Entscheidung im Zweifelsfall natürlich für die Kühe und die weibliche Nachzucht und gegen zugekaufte Mastbullen. Grünen-Agrarpolitiker Ostendorff sieht laut Spiegel-Bericht die Billigpreise als „traurige Begleiterscheinung der industriellen Landwirtschaft“ und spricht von zu großer „Kälberproduktion“ als Folge der intensiven Milcherzeugung. Dabei finden Milcherzeugung und Bullenmast in Deutschland in der Mehrzahl noch in bäuerlichen Strukturen statt, es sind wohl die Bereiche, wo die Entwicklung zur Agrarindustrie noch am wenigsten vorangeschritten ist. Außerdem führt ja gerade die unbestritten intensive Milcherzeugung dazu, dass seit Jahren bei steigender Milchmenge die Zahl der immer mehr leistenden Milchkühe eher rückläufig ist und somit auch immer weniger Kälber geboren werden. Überproduktion ist also nicht das Problem, sondern allenfalls die geringe Masteignung der Kälber von Müttern, die auf hohe Milchleistung gezüchtet werden. Aber selbst schwarzbunte HF-Bullkälber kann man durchaus mästen. Man braucht allerdings mehr Zeit, mehr Futter und muss häufig eine niedrigere Einstufung der Schlachtkörper akzeptieren. Dafür sind aber die Preise für solche Kälber niedriger, und wenn man die eigenen Bullkälber mästet, entfallen auch die Gesundheitsrisiken durch den Zukauf von hoffremden Tieren. Von Agrarindustrie kann man aber in einem wichtigen Bereich doch sprechen, und das ist die spezialisierte Kälbermast. Unter Tierschutzaspekten ist diese Erzeugung eines möglichst hellen Kalbfleisches durch im Grunde unnatürliche Verlängerung der Tränkephase ohne entsprechende Raufuttergabe höchst fragwürdig. Aber vor allem gibt es hier eine sehr große Konzentration auf wenige, oft im Ausland, z. B in den Niederlanden, ansässige Konzerne, für die viele früher selbstständige Betriebe mittlerweile in Lohnmast arbeiten. Diese wenigen Abnehmer bestimmen weitgehend durch ihre Marktposition den Preis für kleine Kälber, weil die Viehhändler und erst recht die Milchbauern ihnen gegenüber eine sehr schwache Verhandlungsbasis haben. Wir haben es also im Grunde mit einem nicht mehr funktionierenden Markt zu tun, wie in vielen anderen Bereichen der Landwirtschaft auch. Dafür spricht auch, dass es im Gegensatz zu früheren Jahren kaum noch saisonale Schwankungen des Kälberpreises gibt und sich auch die Anzahl der geborenen Kälber kaum noch im Preis widerspiegelt. Eine Untersuchung dieser knallharten wirtschaftlichen Zusammenhänge wäre für Politiker und Leitmedien sicher eine lohnende Aufgabe, statt schnell auf „Agrarindustrie“ und Überzüchtung zu verweisen. Und noch wichtiger wäre die gesellschaftliche Diskussion über die Frage, was für Folgen es hat, wenn ein Lebewesen kaum noch einen Wert hat, und wie lange unsere Gesellschaft es sich noch leisten will, auf Kosten von Umwelt-, Sozial- und Tierschutzstandards billig Lebensmittel zu produzieren.
07.12.2019
Von: Ottmar Illchman, Milchbauer

Tiere müssen Wertschätzung erfahren