"Die wesentlichen Treiber des Artensterbens sind menschengemacht“

Die Artenvielfalt nimmt weltweit dramatisch ab. Etwa eine Million der derzeit bekannten rund acht Millionen Tier- und Pflanzenarten ist im Laufe der nächsten Jahrzehnte vom Aussterben bedroht, wenn der Mensch seine Lebensweise nicht gravierend ändert, so das Fazit des „Global Assessment“ des Weltbiodiversitätsrates IPBES, das Anfang Mai zum weltweiten Zustand von Natur und Umwelt vorgestellt wurde. Die Erkenntnisse, die in drei Jahren von 145 führenden Fachleuten aus mehr als 50 Ländern, unterstützt von 330 sogenannten Contributing Authors, zusammengestellt wurden, zeichnen ein dramatisches Bild. Ganz bewusst stellen die Wissenschaftler bei ihren Betrachtungen den Menschen in den Mittelpunkt und beschreiben aus verschiedenen Perspektiven die gesellschaftlichen Abhängigkeiten von den durch die Natur scheinbar kostenfrei zur Verfügung gestellten Ökosystemleistungen. Diese umfassen sehr unterschiedliche Bereiche: „Materielle Ökosystemleistungen (z. B. Energie, Nahrungs- und Futtermittel), kulturelle Ökosystem­leistungen (z. B. Bildung, Inspiration) und regulie­rende Ökosystemleistungen (z. B. Klimaregulation, Wasserqualität)“. Auch, so die Autoren, stünden diese untereinander in einem engen Verhältnis, sodass die Verbesserung einer Ökosystemleistung mit der Verschlechterung anderer verbunden sein kann. So seien die landwirtschaftlichen Erträge in den vergangenen 50 Jahren massiv angestiegen (materielle Ökosystemleistungen). Allerdings seien auf der anderen Seite z. B. der im Boden gebundene Kohlenstoff sowie die Bestäubervielfalt insbesondere der Insekten stark zurückgegangen (regulierende Ökosystemleistungen). In der Folge, so die Autoren, sei die Steigerung der Nahrungsmittelproduktion nicht nachhaltig. Die Pflanzenproduktion ist dem Bericht zufolge seit 1970 um rund 300 Prozent gestiegen, die Holzproduktion um 45 Prozent. „Jedes Jahr werden weltweit rund 60 Milliarden Tonnen erneuerbare und nicht erneuerbare Rohstoffe aus der Natur gewonnen – das entspricht nahezu einer Verdopplung seit 1980“, sagt Ralf Seppelt (UFZ Leipzig), Landschaftsökologe und Leitautor im Kapitel „Szenarien und Wege in eine nachhaltige Zukunft“. Mehr als ein Drittel der Landoberfläche und fast 75 Prozent der Süßwasserressourcen würden derzeit für die Pflanzen- oder Viehproduktion genutzt. Lebensqualität bedroht Dass mit dem Verschwinden von Arten und Lebensräumen ganz direkt unsere Gesellschaften in ihrer derzeitigen – auch kulturellen – Existenz bedroht sind, zeigen die Wissenschaftler auch anhand des von der Natur zur Verfügung gestellten Reichtums an Vielfalt. „Die Zerstörung der Natur und die daraus resultierende Beeinträchti­gung der Ökosystemleistungen für die Menschen haben direkte und indirekte Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit und können die bestehenden Ungleichheiten beim Zugang zur Gesundheitsversorgung oder zur gesunden Ernährung verschärfen.“ Zum einen sei „die Natur der Ursprung der meisten Infektionskrankheiten (nega­tiver Einfluss), sie ist aber auch die Basis für Arzneimittel und Antibiotika (positiver Beitrag)“. Doch dieser Reichtum könnte verschwinden. Ein Achtel der acht Millionen Tier- und Pflanzenarten sind vom Aussterben bedroht. Nicht wenige könnten in den kommenden Jahrzehnten verschwinden. Verursacht wird dies, so die Wissenschaftler „vor allem durch Land- und Forstwirtschaft sowie Urbanisierung“. Hierbei seien es vor allem die Veränderungen der Lebensräume durch Siedlungsbau, Rodung und Intensivierung der Landwirtschaft. Mehr als neun Prozent der weltweit geschätzten 5,9 Millionen an Land lebenden Arten hätten demzufolge keinen ausreichenden Lebensraum mehr. Abstrakte Zahlen Die Ausweitung der Landwirtschaft vor allem in den Tropen, Rodung im Regenwald, alles weit weg. Der Verlust an Lebensräumen ist aber auch hier alltäglich. Wo kann die Feldlerche brüten, wo der Kiebitz? Wie viele Blüten findet man auf dem Grünland, welche auf dem Acker? Noch deutlicher wird die schwindende Vielfalt beim Blick auf die vom Aussterben bedrohten Insektenarten. Genaue Zahlen fehlen, Schätzungen zufolge sind es jedoch mindestens zehn Prozent. Weltweit sind etwa 75 Prozent aller Nahrungspflanzen, darunter Obst und Gemüse, auf die Bestäubung durch Tiere angewiesen. Bestäuberverluste bergen ein Risiko von weltweiten Ernteausfällen im Wert von jährlich bis zu 577 Milliarden US-Dollar, warnen die Autoren. Darüber hinaus verschwinden weltweit lokale Sorten und Rassen von Nutzpflanzen und -tieren. „Dieser Verlust an Vielfalt, einschließlich genetischer Vielfalt, stellt ein ernstes Risiko für die globale Ernährungssicherheit dar, da die Widerstandsfähigkeit vieler landwirtschaftlicher Systeme gegenüber Bedrohungen wie Schädlingen, Krankheitserregern und dem Klimawandel untergraben wird“, warnen die Autoren und sehen in der Landwirtschaft nicht nur einen Verursacher, sondern auch ein Opfer des Artensterbens. Umsteuern nötig und möglich Der Bericht kommt zu dem Schluss, dass globale Biodiversitäts- und Nachhaltigkeitsziele nur durch „rasche und gemeinsame Anstrengungen zur Einleitung eines transformativen Wandels“ erreicht werden können. Die Autoren des Berichts haben vor allem zwei wichtige Punkte ausgemacht, um die Natur nachhaltiger nutzen zu können: Die Weltbevölkerung sollte möglichst langsam wachsen und der Fleischkonsum sollte geringer sein als in den meisten Industrieländern heute. „Da kommen noch etliche weitere Punkte hinzu, die ebenfalls angegangen werden müssen“, sagt Almut Arneth vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT), die als eine der koordinierenden Leitautorinnen für das Kapitel „Zukünftige Szenarien“ mitgearbeitet hat. „Besonders wichtig erscheint mir jedoch, dass die Menschen endlich verstehen, dass die Ressourcen wirklich begrenzt sind.“
04.06.2019

Kornblumen. Alleine aber noch nicht genug Vielfalt