„Der Widerstand geht aber weiter“

Interview mit dem Brasilianer Antônio Andrioli, Vize-Rektor der Universidade Federal da Fronteira Sul, UFFS

Angela Müller: Am Samstag fand in Berlin die „Wir haben es satt“-Demo statt. Was bedeutet Ihnen die Bewegung?

Antônio Andrioli: Ich war letztes Jahr auf der Demo dabei und konnte vor dem Brandenburger Tor eine Botschaft zur Situation von Landwirtschaft und Politik in Brasilien vortragen. Die Landwirtschaft hat meiner Ansicht nach nur eine Zukunftsperspektive, wenn sie bäuerlich, lokal und ökologisch gestaltet wird. Auch das Engagement gegen Glyphosat, Agrargifte generell und Gentechnik ist für mich sehr wichtig. Ich wünsche mir außerdem, dass Solidarität eine wichtige Rolle spielt. Denn das gute Lebensniveau in Europa basiert auf der Ausbeutung von Mensch und Natur in anderen Teilen der Welt. Ich habe es satt, dass in Brasilien Indigene, Kleinbauern und Landlose von ihrem Land vertrieben werden, damit mehr Soja angebaut werden kann – Soja, das letztendlich als Eiweiß für die billige Fleisch- und Milchproduktion auch in Europa dient.


Die Frage der Solidarität gewinnt an Bedeutung, seit Jair Bolsonaro Präsident wurde. Wie haben Sie die vergangenen Monate seit seiner Wahl erlebt?

Es ist eine Mischung aus Enttäuschung und Empörung. Enttäuschung, weil ich nicht dachte, dass so viele den Parolen und Lügen des Wahlkampfes glauben würden. Darunter auch Menschen, deren Lebensqualität sich durch die Sozialprogramme der vorherigen Regierungen verbessert hatte. Diese Programme sollen jetzt abgebaut werden, was die soziale Ungleichheit verstärken wird. Bedrückend ist die große Zustimmung in der Bevölkerung. Die glaubt anscheinend fest daran, dass durch Privatisierungen, den Abbau des Sozialstaates und Repression die Wirtschaft wieder wachsen wird. Viel mehr Menschen, als man vermutet, ärgern sich über die Sozialprogramme der vorherigen Regierungen, haben Hassbilder und hoffen, dass die privilegierten Schichten weiter priorisiert werden, auch wenn sie selbst gar nicht dazugehören. Brasilien galt als gutes Beispiel des menschlichen Zusammenlebens mit einer diversifizierten Gesellschaft. Dieses schöne Bild wurde nun zerstört. Die Polarisierung in der Bevölkerung ist gewachsen und es gibt keine Aussicht, dass sich dieses verringern wird. Im Gegenteil: Konflikte und Gewalt nehmen jetzt schon zu.


Die agrarökologische Bewegung dagegen ist voller Sorge. Was hat sie von der neuen Regierung zu erwarten?

Es ist eigentlich nicht neu für Brasilien, dass das Agrarministerium so mächtig ist. Es setzt die Interessen der Großgrundbesitzer, der Agrarindustrie, um. Diese stellt nach wie vor den größten Block im Parlament und ist jetzt auch an der Regierung beteiligt. Schon unter Lula und Roussef stellte sich die Frage, ob eine Koexistenz zwischen kleinbäuerlicher Familienlandwirtschaft und Agrobusiness möglich ist. Jetzt ist zu erwarten, dass alle Programme zur Förderung von Familienlandwirtschaft, Agrarreform, Ernährungssicherheit, Umwelt und Agrarökologie einfach abgebaut werden. Selbst erfolgreiche Programme wie „Null Hunger“, das durch den Aufkauf von Lebensmitteln auch den Bauern zugutekommt, sind davon betroffen.


Letztes Jahr sind so viele Menschen bei Landkonflikten ums Leben gekommen wie noch nie. Die Landlosenbewegung MST, die mit legalen Mitteln eine Umverteilung des Landes bewirkt, wird als Terrororganisation bezeichnet.

Die Landlosenbewegung ist die größte politische Kraft in der brasilianischen Zivilgesellschaft und leistet demokratischen Widerstand gegen die autoritäre Regierung. Die Bekämpfung der MST ist daher eine logische politische Maßnahme. Schon in den ersten Tagen wurde die Agrarreform komplett gestoppt und die zuständigen Regierungsvertreter kündigten an, dass es mit der MST keinen Dialog oder Verhandlungen mehr gäbe. Wir rechnen mit Repression, Zwangsräumungen und Vertreibungen. Der Widerstand geht aber weiter. Alle fortschrittlichen Kräfte, die in Brasilien und weltweit die MST unterstützen, bilden eine Einheit.


Im Wahlkampf hat Bolsonaro gesagt, es gäbe keinen Zentimeter Land mehr für die Indigenen.

Schon unter Dilma Roussef wurde die Anerkennung von indigenem Land vernachlässigt. Jetzt ist das Agrarministerium dafür zuständig und die Flächen sollen für Landwirtschaft genutzt werden. Bisher schützten die Indigenen die Regenwälder, nun kann die Abholzung weiter zunehmen. Es ist aber auch eine Frage der Menschenrechte. Die Ureinwohner und ihre Lebensform sind durch die brasilianische Verfassung geschützt. Der Kampf für die Erhaltung dieser historischen Errungenschaften und für den Schutz ihrer Lebensräume ist jetzt entscheidend.


Die UFFS steht als öffentliche Uni in der Schusslinie. Was hat sich schon geändert und welche Probleme erwarten Sie?

Die UFFS wurde auf Druck der wichtigsten sozialen Bewegungen gegründet. Diese bestimmen auch bei der Hochschulpolitik und Leitung mit. Wir sind einzigartig, weil wir hauptsächlich mit Absolventen öffentlicher Schulen arbeiten. Und weil wir Zukunftsthemen wie z. B. Agrarökologie, Ernährungssouveränität, ländliche Bildung, Menschenrechte und öffentliches Gesundheitswesen unterrichten. Damit stehen wir im Widerspruch zur neuen Regierung und werden heftig angegriffen. Bereits unter Temer sind die Finanzmittel stark reduziert worden und dies wird sicherlich so weitergehen. Auch an der UFFS wurde versucht, Studentenversammlungen zu verbieten, die akademische Freiheit von Professoren einzuschränken, Themen wie Gender, Demokratie und Menschenrechte zu diffamieren sowie Diskussionen über Faschismus zu verhindern. Auch intern wachsen rückschrittliche Strömungen, was sich wahrscheinlich bei den Uni-Wahlen zeigen wird. Ob wir es in dem schwierigen Kontext überstehen werden, ist offen, aber wir versuchen es! Wir werden weiter freies Denken fördern, innovativ sein und Widerstand leisten.


Die Deutschstämmigen in Brasilien haben überwiegend für Bolsonaro gestimmt. Dass in Deutschland große Sorge und Bestürzung über seine Wahl verbreitet ist, löst hier Verwunderung aus. Was können wir in Europa tun?

Deutschland und Brasilien sind wichtige Partnerländer. Daher sollte sich die Bundesregierung dafür einsetzen, dass Demokratie, Umweltschutz und Menschenrechte in Brasilien eingehalten werden. Im schlimmsten Fall könnten auch Handelsbeziehungen abgebrochen werden. Nichtregierungs- und besonders Menschenrechtsorganisationen müssen meiner Meinung nach sofort reagieren. Kirchliche Organisationen haben einen wichtigen Einfluss auf die brasilianische Politik und viel Erfahrung aus den Zeiten der Militärdiktatur.


Die Sojaproblematik verbindet uns. Wie kann die deutsche Landwirtschaft bzw. europäische Agrarpolitik positive Einflüsse auf die Bauernfamilien in Brasilien haben?

Auch für die deutsche Landwirtschaft ist das Modell der Abhängigkeit von Importen aus Brasilien schädlich. Daher ist die Solidarität von Bauern und Zivilgesellschaft besonders wichtig. Ein sehr konkreter Schritt wäre es, die Importe von pestizidverseuchtem und mit ungerechten Arbeitsverhältnissen produziertem Soja zu reduzieren. Denn sie führen zur Abholzung von Wäldern und zur Vertreibung von Bauern wie Ureinwohnern. Die Menschen in beiden Ländern müssen sich solidarisch im gemeinsamen Kampf gegen die Macht der Agrarindustrie verbinden.


Vielen Dank für das Gespräch!


Das Interview führte Angela Müller, Paraná, Brasilien